Schwaben-Herbst
mir und riss an meinen Kleidern … Bitte, ersparen Sie es mir … Ich möchte nicht mehr darüber …« Ihre Stimme erstarb in einer Flut von Tränen. Sie wandte sich um, wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht.
Braig wartete, war sich der problematischen Situation bewusst. »Das tut mir leid«, sagte er dann, »wirklich, ich kann mir vorstellen, wie belastend das für Sie ist. Aber Sie sind im Moment meine einzige Hoffnung. Wenn Sie ihn wirklich nicht gesehen haben, weder sein Gesicht noch einen anderen Teil seines Körpers oder wenigstens seine Kleidung, kann ich nichts machen. Dann ist mein Besuch umsonst, das muss ich akzeptieren. Aber vielleicht fällt Ihnen doch noch etwas ein. Sein Auto vielleicht, ein Teil des Kennzeichens …« Er sah ihre Angst, brach ab. Es hatte wohl tatsächlich keinen Sinn, es weiter zu versuchen.
Er schwieg einen Moment, griff in seine Tasche, zog seine Visitenkarte hervor. »Wenn Ihnen doch noch irgendetwas einfällt …« Er streckte ihr das Kärtchen entgegen, wartete, bis sie es zögernd entgegennahm und einen Blick darauf warf. »Ich würde Ihnen gerne helfen«, fügte er hinzu. »Wir haben sehr gut ausgebildete, einfühlsame Therapeutinnen, die Ihnen zur Hand gehen könnten. Wenn Sie wollen …«
»Bitte«, antwortete Ulrike Maier, »bitte, lassen Sie mich doch allein. Ich brauche Zeit, viel Zeit, können Sie das nicht begreifen?«
Braig nickte, wünschte ihr alles Gute, verließ die Wohnung.
17.
Natürlich war ihm klar gewesen, dass es mit dem Tod Sattlers kein Ende haben würde. Dass Sattler nur der Erste war, dem bald oder auch später, bei passender Gelegenheit sozusagen, der Zweite folgen würde. Deshalb hatte er längst die Konsequenzen gezogen, sich aus dem unmittelbaren Schussfeld verzogen, Zuflucht gesucht in einem hoffentlich sicheren Versteck. Denn wer das zweite Opfer abgeben, wer als Nächster ins Jenseits geschafft würde, lag von Anfang an auf der Hand: Er selbst. Wer sonst?
Nicht eine einzige Sekunde hatte er an diesem Tatbestand gezweifelt. Nicht einen Hauch des Zweifels an dieser Entwicklung gespürt. Erst Sattler – dann er. Diese Tatsache ließ sich nicht in Frage stellen. Es war einfach so. Wie ein Naturgesetz.
Doch jetzt plötzlich dieser Politiker. Grauselmaier oder wie der sich schrieb. Einer von der herrschenden Clique. Was ihn nicht weiter interessierte. Ob von diesen oder von den anderen – das blieb sich gleich. Kreidefresser, solange sie ihr Ziel noch nicht erreicht hatten, aber zu hungrigen Wölfen mutierte Raubtiere, sobald sie über die Macht verfügten. Hatte es also einen von ihnen erwischt. Na und? Wieder einer weniger von der Bande. Ein Verlust? Für wen? Die Lobbyisten, die ihn geschmiert hatten? Morgen schon war er von seinem Nachfolger ersetzt. Von der neuen Marionette, die dieselbe Klientel bediente. Wem fiel das in wenigen Wochen noch auf? Niemandem. Nicht einem einzigen Menschen. Eben. Weshalb sich also grämen?
Er kam dennoch nicht zur Ruhe. Nicht, solange er nicht wusste, weshalb dieser Politiker. Weshalb gerade der. Weshalb erst Sattler, dann Grauselmaier, dann erst er.
Durfte er diese Frage wirklich stellen? Oder lag es vielleicht daran, dass die Polizei oder die Medien sich täuschten? Er hatte die Nachricht im Fernsehen gesehen, in einer dieser regionalen Nachrichtensendungen, die den halben Nachmittag und Abend über den Äther flimmerten, hatte sie mehrfach verfolgt, weil sie so unglaubwürdig war, so weit ab von jeder Realität. Am nächsten Morgen hatte er sich unten im Ort sämtliche Zeitungen besorgt, die zu erhalten waren, die Meldung gesucht, sie in jedem Blatt gefunden, überall trotz verschiedener Schwerpunkte und Ausschmückungen im Prinzip gleich, zumindest was das Entscheidende anbetraf: Grauselmaier, der alte verdiente Politiker, zuerst mit Säure attackiert, dann erschossen, genau wie Andreas Sattler, der junge Student aus Reutlingen. Ratlosigkeit, allen Blättern nach zu urteilen, bei Polizei, Staatsanwaltschaft, den anderen Politikern, der Landesregierung, den Journalisten, überall.
Wieso dieser Politiker? Was hatte der damit zu tun? Mit Sattler und ihm?
Er musste sich zusammenreißen, durfte sich jetzt nicht von dieser Frage auf falsche Gedanken bringen lassen. Grauselmaier hin oder her, wer als Nächster kam, blieb weiterhin klar. Seit er diese Augen gesehen hatte, damals, nachdem es geschehen war, die Entschlossenheit und den Hass, diesen abgründigen Wunsch nach Vergeltung, hätte ihm
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