Schwaben-Herbst
den Raum. Ein reichlich vergammeltes Schlafzimmer mit ungemachten Betten und auf den Boden, die Betten, den Schrank verteilter Schmutzwäsche. Keine Frau im Haus, soviel war schon auf den ersten Blick klar.
Braig überzeugte sich, dass sich niemand in dem Zimmer verbarg, schob sich zur nächsten Tür. Auch sie war angelehnt, quietschte noch erbärmlicher, als er sie zu öffnen versuchte.
Die Hausschuhe sah er als erstes. Zwei mit Flecken übersäte, von kleinen Löchern durchsetzte, teilweise eingerissene, dunkelbraune Stoffschuhe, denen unmittelbar die Hose folgte. Braig begriff schon im ersten Moment, was jetzt kam. Das war keine Attrappe, auch nicht eine in einen biederen Hausanzug gezwängte Schaufensterpuppe, die hier auf dem Teppich des Wohnzimmers lag. Die Hausschuhe steckten an den Füßen eines seit Stunden verschiedenen, vollständig bekleideten Mannes. Er war nach hinten zurückgefallen, als er von den Kugeln in die Brust getroffen worden war, musste aber, seinem übel verzerrten Gesichtsausdruck nach, unmittelbar vor seinem Tod noch starken Schmerzen ausgesetzt gewesen sein. Braig hatte keinerlei Fragen, woher die Schmerzen resultierten. Zu offensichtlich traten die von Säure zersetzten Partien im Gesicht und im Schambereich des Mannes hervor. Verunstaltungen dieser Art hatte er in der letzten Zeit nur auf den Bildern auf Neundorfs Schreibtisch gesehen, Berichte über in dieser Weise zugerichtete Opfer nur anlässlich ihrer aktuellen Ermittlungen gehört.
Er trat unwillkürlich einen Schritt zurück, steckte seine Waffe weg, holte dafür sein Handy vor. Die Nummer seiner Kollegin war eingespeichert. Er hatte sie sofort am Apparat. »Es gibt Arbeit«, sagte er, als sie sich erfreut, seine Stimme zu hören, meldete, »für dich und die ganze Sonderkommission.«
Z WEITE O KTOBER -H ÄLFTE
1.
Jedes Ding hat zwei Seiten stand in fett gedruckten, verschnör kelten Lettern überlebensgroß an der Plakatwand, ein unförmiger, von einem ausgeprägten Bierbauch verunstalteter Mann darunter, der gerade dabei war, in einen üppig belegten Hamburger zu beißen.
Wie wahr, überlegte Braig, den Moment im Sinn, als er Offenbachs Leiche gefunden hatte. Genau eine Woche war es her. Kai Offenbach – auf die gleiche Weise getötet wie Andreas Sattler und Martin Grauselmaier. Mit derselben Pistole, wie sich inzwischen herausgestellt hatte, einer Walther PPK 7.65, die unter Experten als Allerweltswaffe galt. Vorher mit Säure attackiert, ins Gesicht und auf den Unterleib. Dieselbe Prozedur wie bei dem Studenten und dem Politiker. Drei Männer auf identische Weise und mit derselben Waffe ermordet – und trotzdem standen sie immer noch mit leeren Händen da. Es gab zwar einen Verdächtigen: Falk Holdenried. Aber der war nach wie vor verschwunden, obwohl seit mehr als zehn Tagen nach ihm gefahndet wurde. Ein deutlicher Hinweis auf seine Schuld?
Das war die eine Seite der Medaille.
Die andere Seite sah eigentlich erfreulicher aus: Braig hatte seine eigenen Ermittlungen erfolgreich beendet, den Täter, der über Wochen hinweg Frauen überfallen und mit brutaler Gewalt verletzt hatte, ermittelt und überführt – allerdings in einem Zustand, der der Staatsanwaltschaft und der Justiz jede weitere Arbeit hinsichtlich seiner Person ersparte. Zum ersten Mal seit Monaten war ein Wochenende ins Land gezogen, ohne dass die Boulevard-Medien in großer Aufmachung vom Wüten der Bestie irgendwo im Großraum Stuttgart hatten berichten können. Den Technikern des LKA war es eindeutig gelungen, Kai Offenbach posthum als den Mann zu überführen, der die Überfälle in Stuttgart, Musberg, Ludwigsburg und Esslingen durchgeführt hatte. Sie waren in seiner Wohnung auf die olivgrün-braun gemusterte Militärjacke gestoßen, die Konrad Umgelter in Ossweil an ihm gesehen hatte, hatten an der Jacke nach gründlicher Überprüfung sowohl Haare Marianne Reischs, der in dieser Nacht überfallenen Frau, als auch Fasern ihres Mantels identifiziert, eine Fähigkeit, die Experten des Stuttgarter Landeskriminalamts neben wenigen anderen Instituten in Japan und den USA seit wenigen Jahren in ungeahnter Präzision beherrschten. Sie waren zudem auf das nur in kleinen Mengen verkaufte, aber intensiv duftende Rasierwasser gestoßen, das sowohl Marianne Reisch als auch Bernhard Bareiss sofort wieder erkannt hatten. Zu guter Letzt waren ihnen die im Tatzusammenhang beobachteten Fahrzeuge der A- und E-Klasse in Offenbachs Betrieb in Stuttgart in die
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