Schwaben-Liebe
Zwar war seine Tätigkeit beim LKA bei Weitem nicht so spannend und abwechslungsreich, wie er sich das einst in der Provinz ausgemalt hatte – statt großen, von viel journalistischem Tamtam begleiteten Auftritten im hehren Kampf gegen das internationale Verbrechertum hatte sich die Arbeit in Bad Cannstatt eher als mühseliges, so manchen Abend und viele Wochenenden verschlingendes, letztendlich oft sinnloses Kleinklein erwiesen, das von niemand entsprechend gewürdigt wurde, doch war er auf privater Ebene im Verlauf der Zeit auf ein Umfeld gestoßen, das seinen Erwartungen durchaus gerecht geworden war.
Von dem Gerücht nach Stuttgart gelockt, in und um die Landeshauptstadt stehe ein großer Teil der reichlich vorhandenen Weiblichkeit unverbindlichen, aber nichtsdestotrotz physisch äußerst intensiven Begegnungen mit naschsüchtigen, männlichen Existenzen noch weit aufgeschlossener gegenüber als in der Provinz, hatte er in den vergangenen Jahren viel Energie darauf verwandt, diese Behauptung bis ins Detail zu überprüfen. Wann immer es die Zeit erlaubte, war er bestrebt, sich einer der in der Umgebung herumschwirrenden, wohlduftenden Blüten zu widmen, so jedenfalls hatte er es in ironischem Tonfall Braig erzählt. Ob er in Jacqueline Stührer die neueste Blüte identifiziert hatte?
Braig kam nicht dazu, sich länger in Gedanken darüber zu ergehen, weil sein Handy den Eingang einer SMS signalisierte. Er zog es vor, las Kulzers Vorschlag, sich mitten in Ellwangen im Café
Ars Vivendi
zu treffen, sagte dem Mann zu.
Stefan Kulzer war in die Lektüre eines Buches vertieft, als die beiden Kommissare das
Ars Vivendi
betraten. Braig wollte es zuerst nicht glauben, dass es sich bei dem älteren Herrn mit den kurzen, graumelierten Haaren um den Politroutinier handelte, der Emilia Widenoff so übel zugesetzt hatte, so sanft und friedlich mutete der Anblick des Mannes an. Er saß mit einem schlichten, beigefarbenen Pullover bekleidet an einem der kleinen Tische, ein weißes Blatt Papier mit seinem weithin lesbaren Namen vor sich, sah erst in dem Moment auf, als sie unmittelbar vor ihm standen.
Braig grüßte, stellte sich und seine Kollegin vor. Kulzer erhob sich höflich, reichte mit der Bemerkung »Ladies first« zuerst Jacqueline Stührer, dann dem Kommissar die Hand. »Sie kommen zu zweit?« Er schien überrascht.
»Bei wichtigen Befragungen immer«, antwortete Braig.
»Oh, darf ich das als Kompliment verstehen? Ich bin eine wichtige Person für unser LKA?« Kulzers mit freundlichem Lächeln formulierte Bemerkung kam ohne jeden Hochmut, dafür aber mit viel Charme daher.
Braig konnte einen Anflug von Sympathie für den Mann nicht verhehlen. »Im Moment schon, ja«, sagte er. Kulzers Auftreten wie das Umfeld, das er für ihr Treffen ausgewählt hatte, überraschten ihn doch sehr. Das komplett in dunklem Mobiliar gehaltene Café bestand aus zwei kleinen, gemütlichen Räumen. Es atmete Wohnzimmeratmosphäre pur. Farbenfrohe Bilder schmückten die Wände, ausnahmslos Originale, wie ihm schien. Der Duft von frisch gebackenem Kuchen lag in der Luft. Kein Wunder, dass alle Tische von eifrig miteinander parlierenden Gästen besetzt waren.
Der Landrat zog seinen Pullover zurecht, wies zum Tisch. »Wollen wir uns hier unterhalten?«
»Hm.« Braig warf einen Blick auf die vielen Leute um sie herum, brachte seine Skepsis deutlich zum Ausdruck. »Ich fürchte, bestimmte Inhalte unseres Gesprächs sind nicht für ein größeres Publikum gedacht.«
Kulzer ließ ein freundliches Lachen hören. »Na ja, so schlimm wird es schon nicht werden. Was mich angeht: Ich habe nichts zu verbergen.«
»Das ist prima. Aber ein Zimmer oder eine kleine Ecke im Hotel wären …«
»Ach was«, beharrte der Mann, »lassen wir doch diese Förmlichkeiten. Ich habe gerade wunderbare Momente der Besinnung hier in dieser Stadt und jetzt in diesem Café erleben dürfen, mit diesem Buch an diesem Tisch …« Er nahm das Buch hoch, das etwa in der Mitte aufgeschlagen war, reichte es seinen beiden Gesprächspartnern. »Aber jetzt nehmen Sie doch Platz, bitte.« Er wies auf die Stühle, schob einen für die junge Kommissarin zurecht, nahm dann wieder Platz.
Braig setzte sich, studierte den Titel des Buches.
Weisheiten von Heiligen
.
»Wunderbare, tiefsinnige Ausführungen«, erging sich Kulzer in Lobeshymnen. »Dieses Werk sollte auf jedem Nachttisch liegen. Mit diesen Männern hat Gott uns ganz besonders gesegnet.«
Braig sah, wie seine
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