Schwaben-Messe
an der Sache nach Tschetschenien gezogen waren?
Neundorf versuchte sich an die Aufnahmen in den Nachrichten zu erinnern, an die Bilder der Tagesschau, wenn sie Filme aus einem der vielen russischen Kriege überspielten, sie konnte die Fotos nicht zuordnen. Waren die Berge in Tschetschenien nicht viel höher, mächtiger, unwegsamer als die hier präsentierten Hügel?
Sie legte den Bilderstapel zur Seite, zog das Video aus dem Koffer. Seit mehreren Wochen hatten sie einen Recorder samt Bildschirm im Büro, weil sie Filme aus Überwachungskameras geprüft hatten, um eine Serie von schweren Banküberfällen mit einem Todesfall zu klären. Tagelang waren sie zum Videokonsum verurteilt gewesen, hatten abwechselnd auf den Monitor gestarrt, um zufällig einen der verdächtigen Männer zu erspähen – vergebens. Seither hatte niemand mehr an den Apparat gedacht.
Neundorf schob die Kassette in den Schlitz, gab den Auftrag zum Start des Videos. Zuerst Flimmern, dann springende Bilder mit knarzend-unverständlichen Geräuschen. Plötzlich lief der Film, mitten in einer Kampfszene. Schüsse, Schreie, zerplatzende Fensterscheiben, vorwärts robbende Uniformierte, ein Gebäude, das von schwerem Geschütz getroffen wurde und wie bei einem starken Erdbeben wackelte, dann eine junge Frau, die mit erhobenen Händen und vor Schreck verzerrtem Gesicht aus einem Nachbarhaus rannte, direkt auf die Kamera zu. Laute Männerstimmen in einer fremden Sprache, angsterfülltes Schreien der Frau, ebenfalls unverständlich, plötzlich deutsche, nein, schwäbische Worte: »Du z’erscht oder i?« Hartes Lachen, ein uniformierter Mann, der von rechts ins Bild preschte, Schüsse jetzt nur noch in weiter Entfernung, mehrere Männerstimmen, dann der Mann in Großaufnahme. Jahn. Wolfgang Jahn.
Neundorf erkannte ihn sofort, trotz seiner grün-braun gefleckten Jacke. Zu oft hatte sie ihn auf den Bildern bei seiner Mutter gesehen. Sie kannte ihn, auch wenn sie ihn nie lebend erblickt hatte.
Er rannte auf die junge Frau zu, warf sie zu Boden, riss ihr die Kleider vom Leib. Sie schrie, stammelte, strampelte mit den Beinen …
Neundorf hielt sich an ihrem Schreibtisch fest, starrte auf den Bildschirm, hörte das Schreien, Keuchen, die verebbenden Kampfhandlungen im Hintergrund, sank langsam, die Seitenwand ihres Schreibtisches im Rücken, auf den Boden. Das Zittern begann in ihren Beinen, erfasste ihre Schenkel, setzte sich Stück für Stück nach oben fort. Sie lehnte am Büromöbel, zwang sich, dem Video zu folgen.
Die junge Frau schrie und tobte, in fremder, Neundorf unverständlicher Sprache. Zuerst Jahn auf ihr, dann ein anderer Mann, mal in Großaufnahme, dann im Detail, kurz darauf, deutlich zu erkennen, Grandel. Sekundenlang das gequälte Gesicht der jungen Frau, jetzt ihr entblößter Leib, dann ihre Beine. Die Kamera ließ sich Zeit, zeigte ihre Folter in voller Länge. Einer nach dem anderen verging sich an der jungen Frau, detailliert gefilmt und in allen Einzelheiten dokumentiert.
Neundorf lehnte an ihrem Schreibtisch, starrte auf den Bildschirm. Die Gewalt nahm kein Ende. Nach der Vergewaltigungsszene ein neuer Angriff. Häuser wurden zerschossen, Fliehende, Menschen wie Tiere ohne Unterschiede als Zielscheiben benutzt. Erst streckten sie ein junges Kalb nieder, dann ein Huhn, zwei Minuten später eine alte Frau. Dazu Schreien, Schüsse, Explosionen, verzweifelte Hilferufe in einer fremden Sprache. Mord und Totschlag wie in einem verblüffend echten Hollywood-Film, nur ohne Schauspieler. Eine Gans oder Ente vor der Kamera, Neundorf konnte es nicht genau erkennen, weil die Kamera Sekundenbruchteile benötigte, bis die Linse scharf eingestellt war, im selben Moment ein ohrenbetäubender Knall, gleichzeitig die zerfetzten Einzelteile des Tieres, das in einen Orkan von Federn und Fleischstücken zerbarst. Von weitem dann ein wütend bellender großer Hund, vom Zoom der Kamera näher geholt, das Rattern von Gewehren, Körperteile des Tieres, die in alle Richtungen auseinanderflogen. Dazu begeisterte Rufe verschiedener Männerstimmen, alle in deutscher Sprache, einige in schwäbischem Dialekt. Jeder Treffer wurde johlend begrüßt, jede Entdeckung eines neuen Zielobjektes laut kundgetan.
Neue Einstellung: Ein alter, gehbehinderter Mann, der sich verzweifelt bemühte, in einem kleinen Waldstück Zuflucht zu suchen, laute Begeisterungsschreie: »Do hinne, nimmsch du den?« Bellende Schüsse, die den Mann von den Füßen rissen. Euphorische
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