Schwaben-Messe
Killesbergs existierten. Statt die bisher benutzten Hallen auszubauen und zu erweitern – ausgearbeitete Pläne hierfür lagen längst vor – plante man in typisch neuschwäbisch-großkotziger Manier ein völlig neues Messegelände, für dessen Kapazitäten in Deutschland überhaupt kein Bedarf vorhanden ist. Selbst den Vorschlag, das riesige leerstehende Areal der nicht mehr benötigten Militärkasernen im nahen Böblingen zu nutzen, lehnte die Landesregierung ab. Stattdessen verpflichtete sie per Gesetz alle Umlandkreise und -gemeinden Stuttgarts, das Entstehen der neuen Messe in Leinfelden mit Millionenzuschüssen aus Steuergeld zu finanzieren, obwohl die Messegesellschaft selbst als privates Unternehmen firmiert. Genau das gleiche Konzept war wenige Jahre zuvor in Leipzig total fehlgeschlagen. Auch dort hatte man außerhalb der Stadt ein neues, überdimensioniertes Messegelände errichtet, in der Hoffnung, neue Anbieter anlocken zu können, musste jetzt jedoch Jahr für Jahr Milliardenverluste eingestehen, die aus Steuern aufgebracht werden, weil nicht nur die neuen, sondern jetzt in diesen großen, teueren Hallen sogar die alten Aussteller teilweise ausgeblieben sind – obwohl Leipzig im Gegensatz zu Stuttgart jahrzehntelange Tradition als Messestadt besitzt, die sogar die kommunistische Diktatur überdauert hat.
»Die großen Messen sind alle längst vergeben, die warten nicht auf das kleine Stuttgärtle am Rand Deutschlands«, erklärte sie. »Die Stadt Leinfelden-Echterdingen mit ihren dreißigtausend Einwohnern, auf deren Fläche gebaut werden soll, ist mit ihrem kompletten Gemeinderat geschlossen gegen die neue Messe, aber die Landesregierung beharrt auf ihrem Vorhaben und droht, uns zugunsten eines privaten Unternehmens, der Messe, zu enteignen. Das ist absolut neu für demokratische Staaten. Die müssten nur dafür sorgen, dass die Besucher der Killesberg-Messen mehr öffentliche Verkehrsmittel benutzen, dann wären sie aller Probleme ledig. Aber nein, weil Frankfurt, Hannover und München neue Messehallen besitzen, will das kleine Stuttgart nicht hintenanstehen. Wir leben hier schließlich in einer Welt-Metropole, klar? New York, Rio de Janeiro, Stuttgart: Die drei Big Cities of the World.«
Als sie das Lokal verließen, waren sie beim »Du« angelangt. Sie schlenderten am Alten Schloss vorbei durch die Fußgängerzone, gönnten sich in einem Freiluft-Café ein Eis.
»Hättest du Lust, mit zu mir zu gehen?«, fragte er schließlich.
»Willst du mir deine Briefmarkensammlung zeigen?« Sie ließ ihn deutlich spüren, dass sie nicht abgeneigt war.
»Warum nicht? Vorausgesetzt, meine Telefonkarten tun es auch.«
Im Haus schien jetzt kurz vor Mitternacht alles zu schlafen. Braig schloss sorgfältig das Fenster, um keine verdächtigen Geräusche nach außen dringen zu lassen.
»Mira macht sich keine Sorgen, wenn du nicht kommst?«, fragte er später, als sie sich wieder voneinander gelöst hatten.
Sie ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. »Mira kaum, Moses schon.«
Sie lagen nebeneinander in seinem Bett, das Laken bis zu den Hüften hochgeschoben. Er lachte leise, streichelte sie zärtlich.
»Er liebt es nicht, allein zu sein«, ergänzte sie.
»Wer mag das schon?«, fragte er.
Sie lachte. »Gute Antwort. Heute haben wir etwas dagegen getan.«
Braig nickte, legte seinen Kopf auf die Seite, betrachtete ihr Profil, das im Schein einer Straßenlaterne schwach auszumachen war. »Mira ist nicht mehr bei dir?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Zurück nach Jugoslawien?«
»Sie will neu anfangen«, erklärte Gabriele Krauter.
»Nicht mehr in Kakanj?«
»Du weißt, wo es liegt?«
»In der Krajna«, sagte er, »es wurde brutal zerstört, ja?«
Sie hauchte nur ein leises »Ja«.
»Wir haben einen schrecklichen Film entdeckt.«
Ihre Augen trafen sich in der Dunkelheit. Er sah, dass sie seine Vermutung ahnte.
»Woher kommen deine Vorfahren?«, fragte sie.
»Meine Mutter aus Klokocevac, einem kleinen Dorf in der Nähe der Donau. Nicht weit von der rumänischen Grenze. Mein Vater, was soll ich sagen? Er war viel unterwegs. Lebte im Kosovo, in der Krajna, in Kroatien, in Belgrad.«
»Mira will zu ihrer Schwester. Sie überlebte als einzige.«
»Ihre Eltern wurden ermordet?«
Gabriele Krauter nickte. »Ihr Lebensgefährte und ihre Tochter ebenfalls.«
»Sie hatte eine Tochter?«
»Vierzehn Jahre alt. Mira musste zusehen, wie sie von einer Horde Bestien vergewaltigt und dann erschossen
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