Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwaben-Messe

Schwaben-Messe

Titel: Schwaben-Messe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Wanninger
Vom Netzwerk:
nicht weit vom Ludwigsburger Bahnhof entfernt. Sie hatte schüttere graue Haare, faltige Wangen, bleiche, fast durchsichtige Haut. Ihre Haare hingen strähnig ins Gesicht, der Muskel unter ihrem rechten Auge zuckte alle paar Sekunden. Sie trug einen dunkelroten, aufgetragenen Pullover, eine lila-gestreifte Schürze mit fettigglänzenden Trägern. Braig schätzte die Frau weit älter als die sechsundsiebzig Jahre, die ihr Ausweis bescheinigte, den sie ihm sofort beim Eintritt in die Wohnung vor die Nase gehalten hatte. Sie wirkte abgearbeitet und verbraucht.
    »Das ist nicht seine Art, wirklich nicht«, betonte sie mit heiserer, fast krächzender Stimme.
    Braig versank in dem alten Plüschsofa, das die Rückwand ihres kleinen Wohnzimmers zierte. Für ein Möbelstück dieses Alters war er zu schwer und zu groß. Er spähte mit den Augen durchs Zimmer, suchte verzweifelt nach einem Stuhl, auf dem er hätte Zuflucht finden können.
    »Ist Ihr Sohn verheiratet?«, fragte Braig. Er versuchte, so von dem Mann zu reden, als sei er am Leben. Noch war der Tote in der Nähe des Flughafens nicht identifiziert.
    »Nicht mehr. Seit fünf Jahren geschieden. Seine Sonja betrog ihn. Ein Mann nach dem anderen. Ich habe ihn immer vor ihr gewarnt. Er wollte nicht auf mich hören.«
    Solche mütterliche Besorgnis war Braig ja nicht unbekannt. Er hatte sie selbst oft genug gehört.
    »Er hat keine neue Freundin?«
    »Nichts Festes. Mein Jonas ist zu anständig, um Frauen hinterherzurennen.«
    »Dann lebt er also ganz allein in Waiblingen?«
    Else Altmaier nickte. Sie saß in einem alten gepolsterten Mahagonistuhl, der bei jeder Bewegung der Frau gefährlich ächzte. Die Luft in dem Zimmer roch leicht abgestanden und modrig, als habe sie den Raum schon längere Zeit nicht mehr benutzt.
    »Jonas hat eine schöne Wohnung«, krächzte die alte Frau, »nicht weit vom Kino. Bei der Bonbonfabrik.«
    Braig kannte die Innenstadt von Waiblingen, ließ sich die Adresse geben. Er wusste, wo etwa die Wohnung lag. »Aber er hat gute Freunde«, sagte er, »oder treibt Sport oder ein Hobby. Vielleicht ist er gerade unterwegs.«
    »Nein, nein. Er hätte es mir erzählt. Ich bin allein. Er muss mir doch einkaufen. Außerdem hat er mir versprochen, die Streifen mitzubringen für meinen Zucker. Ich habe keine mehr, muss aber meinen Zucker messen. Jonas ist nicht weg, er weiß, wie dringend ich die Streifen brauche. Er würde mich nie sitzen lassen.«
    Braig musterte das bleiche Gesicht und verstand, dass es eilte. »Sie sollten Ihren Hausarzt verständigen«, sagte er, »auch wenn es Sonntag ist. Er wird sicher verstehen, dass Sie nicht warten können.«
    Er ließ sich von Frau Altmaier die Nummer ihres Hausarztes geben, rief an. Ein automatischer Anrufbeantworter teilte ihm mit, dass die Praxis heute geschlossen sei und man sich an den Kollegen vom Notdienst wenden solle.
    »Sie haben überhaupt keinen Messstreifen mehr hier?«, fragte er die Frau.
    Sie schüttelte den Kopf. »Jonas hat mir versprochen, sie zu bringen.«
    Er nickte, läutete bei den Kollegen der Ludwigsburger Polizeiwache an, schilderte das Problem. Sie versprachen, sich um Frau Altmaier zu kümmern.
    »Ihr Sohn hat eine Brandwunde am linken Knie?«
    »Es hätte schlimm ausgehen können. Er war noch Lehrling damals. Die Heizungsrohre. In einem Neubau in Stuttgart in der Leuschnerstraße. Sie waren nicht dicht. Plötzlich schoss das heiße Wasser auf sein Bein. Rings um sein linkes Knie. Ungefähr so groß.« Sie umschrieb eine Fläche von der Größe einer Hand. »Über dem Knie und darunter. Jonas hat dort nur noch eine Haut.«
    »Heizungsbauer ist ein anstrengender Beruf. Seine Hände sind wahrscheinlich ganz schön zerkratzt?« Er wusste nicht, wie er es genauer andeuten sollte.
    »Oh nein«, antwortete Else Altmaier, »er ist sehr vorsichtig mit seinen Händen. Er braucht sie, weil er so gerne malt. Hier, sehen Sie.« Sie deutete auf ein Bild, das über ihm an der Wand hing.
    Er drehte sich um, betrachtete es, kam nicht umhin, die künstlerische Fähigkeit ihres Sohnes zu bewundern. Die Bleistiftzeichnung zeigte eine flache Meeresküste, an der sich die Wellen brachen und sanft ausliefen. Kein Mensch, kein Tier war zu sehen. Schlicht und einfach gezeichnet, aber in einer intensiv melancholischen Stimmung.
    »Er trägt immer Handschuhe bei der Arbeit. Extra dicke, auch wenn seine Kollegen spotten. Er braucht seine Hände für die Bilder, verstehen Sie?«
    Braig nickte, spürte, dass er

Weitere Kostenlose Bücher