Schwaben-Messe
die Freiheit, die Möglichkeit, endlich wieder alle Hemmungen zu vergessen, alle angestauten Triebe mit einem Mal freizusetzen.
Sie hatten es genossen, und wie! Es war ein Rausch, ein kurzer, zuerst nur wenige Tage währender Wahn, mit dem er sich Luft geschafft und Vergeltung gesucht hatte für all die Pressionen, die er sich in den vergangenen Ehejahren selber auferlegt hatte. Sie hatten sich ausgetobt in einer unvorstellbaren orgiastischen Ekstase, hatten gewütet und um sich geschlagen wie lange in Gefangenschaft gesperrte wilde Tiere, waren nicht mehr zu erkennen gewesen in ihrem Wahn. Im Nachhinein verglich er ihr Verhalten gerne nur mit der Wucht eines Vulkanausbruchs, der ihre seit Jahren angestauten Gase und Magmamassen mit unvorstellbarer Gewalt in die Umgebung schleudert und dabei alles in seinem Bannkreis zerstört. Ewo, Ogi und er, sie hatten im wahrsten Sinn des Wortes eine blutgetränkte Spur in die Landschaft gebrannt.
Jahn stieg die Stufen der Burgmauer hoch, blickte über die Brüstung auf die Weinreben und auf die unten im Tal mit Tausenden von Lichtern aufleuchtende Stadt.
Er brauchte seine Freiheit, die Möglichkeit, ab und an über die Stränge zu schlagen, so richtig die Sau rauszulassen, wie Ewo es formuliert hatte, und ihre gemeinsamen Touren waren weiß Gott die optimale Gelegenheit dazu gewesen. Keine läppischen Lausbubenstreiche wie die Wettrennen auf nächtlich-einsamen Landstraßen …
Jahn hatte den Hochwachtturm fast erreicht und blieb heftig schnaufend stehen. Er starrte über die Brüstung auf die Kulisse der ins abendliche Dämmerlicht getauchten Stadt. Unter ihm fiel der Berg steil ab. Menschen waren wirklich nicht mehr viele unterwegs. Fünf, sechs Paare schlenderten über den Marktplatz, eine Gruppe junger Männer verharrten vor der Front der St. Dionys-Kirche, offenbar in heftige Diskussionen vertieft. Jahn starrte nach unten, bemerkte den Krankenwagen, der mit lauter Sirene vom Bahnhof her auf den Neckarkanal zuraste. Die wenigen Menschen unten blieben stehen, verfolgten den Notfalleinsatz mit großem Interesse. Irgendwo in der Stadt war offensichtlich etwas passiert.
Jahn bemerkte die Gruppe von Leuten, die wenige Meter von ihm entfernt miteinander erzählend die Stufen der Burgmauer hochkeuchten, wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Krankenwagen zu. Das Fahrzeug jagte über die Kanalbrücke zum Marktplatz, verschwand hinter der Kirche. Jahn beugte sich weiter über die Brüstung, um dem Auto nachzusehen, spürte den brachialen Schlag, der seinen Schädel zertrümmerte, eigentlich gar nicht mehr. Bewusstlos rutschte sein Körper von der Brüstung auf die Stufen. Von den letzten Sekunden seines Lebens bekam er nichts mehr mit. Brutale Kräfte rissen ihm die Kleider vom Leib, ein scharfes Messer trennte markante Teile von seinem Körper. Einen Augenblick später prallten die Überreste des Sterbenden zehn Meter unterhalb der Burgmauer in die Weinreben.
15.
Steffen Braig war spät am Abend müde und verschwitzt nach Hause gekommen. Er stand unter der Dusche, spülte sich den Schmutz vom Leib, hoffte darauf, dass auch die Kopfschmerzen verschwinden würden, als das Telefon läutete. Missmutig schüttelte er die Nässe von sich ab, warf sich ein Handtuch über, lief zum Apparat, nahm das Gespräch entgegen. Vor dem Fenster war es dunkel.
»Erinnerst du dich noch an mich?«, fragte die Stimme.
Schon der Ton brachte ihn in Rage. »Mama«, schrie er, rieb sich mit dem Handtuch den Oberkörper ab, »was soll das?«
»Deine Tante ist gestorben«, meinte sie kurz.
»Wer?«
»Teta Jelica.«
»Was?« Er kannte die jüngere Schwester seiner Mutter gut, hatte als Kind mehrfach einige Ferienwochen in ihrem Haus verbracht. »Aber sie war doch erst …«
»Sechsundvierzig, ja.«
Er warf das Handtuch über die Sofalehne, stieg mit feuchten Beinen in seine Schlafhosen, zog die dazugehörige Jacke über, setzte sich auf den Boden, das Sofa im Rücken. »Wieso ist sie gestorben? Sie war doch gesund, oder?«
»Blinddarm. Eine harmlose Sache. Aber sie konnten nicht operieren, weil deine Freunde alles zerstört haben. Bomben auf das Kraftwerk und direkt neben das Krankenhaus. Deine Freunde, deren Sprache du sprichst. Wie damals.«
Der verdammte Krieg! Braig wusste, was es für sie bedeutete, dass ihre Heimat von der Nato bombardiert worden war.
»Mama, das sind nicht meine Freunde!«
»Lüge nicht deine eigene Mutter an! Wer hat Belgrad bombardiert, wer das Land zerstört?
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