Schwaben-Messe
um, starrte nach oben, die Burgmauer hoch. Sie ragte etwa zehn Meter kerzengerade in die Höhe, überragt von dem spitzgiebligen, schmalen Ziegeldach.
»Die Erde hier ist blutgetränkt«, zeigte Dr. Kessler auf den Boden, »an der Stelle, wo seine männlichen Teile fehlen. Weil ich hier aber überhaupt keine Spuren eines Menschen, geschweige eines Kampfes erkennen kann, denke ich, dass der Mann oben auf der Treppe überfallen und entmannt wurde. Im gleichen Atemzug warf ihn der Mörder über die Mauer. Der Aufprall tötete ihn vollends, seine Wunde blutete einige Sekunden aus. Sie müssen die Stufen oben genau überprüfen.«
»Können Sie den Todeszeitpunkt schon in etwa abschätzen?«
Dr. Kessler kniete sich wieder auf den staubigen Boden, machte sich am Unterkörper der Leiche zu schaffen. Er war um die Fünfzig, schien über lange Berufserfahrung zu verfügen. »Zehn, zwölf Stunden mindestens. Obwohl ich noch keine genauen Daten habe. Die Leiche muss ins Labor. Aber die Gliedermaßen sind so hart, dass es mehrere Stunden sein müssen.«
»Also gestern Abend zwischen neun und elf.« Neundorf schaute auf ihre Uhr. »Was macht ein Mann so spät hier in dieser Gegend?«
»Bummeln«, antwortete der Arzt, »die Burgmauer ist beliebt bei Spaziergängern. Oben gibt es ein gutes Lokal, unten liegt gleich nach der Unterführung der Marktplatz. Von der Mauer genießen Sie einen grandiosen Rundblick. Sie waren noch nicht oben?«
»Tut mir leid. Ich bekenne die Unterlassung.« Sie schaute sich um, beobachtete ihre Kollegen, die den Boden und die Weinreben akribisch absuchten. »Wenn so viele Leute hier unterwegs sind, müssen wir unbedingt nach Zeugen suchen. Dazu ist der Todeszeitpunkt besonders wichtig. Vielleicht haben wir Glück, und es gibt Hinweise.«
»Ich werde mich bemühen«, erklärte der Arzt, »aber Sie müssen mir Zeit lassen.«
Neundorf fuhr sich mit der Hand über die Stirn, massierte ihre Schläfen. Es war spät geworden gestern im LKA. Sie hatte Hausmann, den Psychologen angerufen, um eine kurze Analyse gebeten. »Wer entmannt einen Mann?« hatte sie ihn gefragt, und um Parallelen in der Kriminalgeschichte ersucht.
Hausmann war vorsichtig mit seiner Antwort gewesen, wie immer. »Ich benötige Hintergründe«, war seine Replik, »Du weißt, ich liebe keine Schnellschüsse.«
Jetzt gab es noch mehr für ihn zu tun. Wie es aussah, handelte es sich um einen Serienmörder. Oder war es nur eine Nachahmertat? Neundorf glaubte nicht daran. So schnell gingen Leute, die sich von einem erfolgreich verübten Verbrechen zur Imitation hinreißen ließen, nicht ans Werk. Nicht am selben Tag schon, an dem die erste Tat gerade bekannt wurde. Mittags die Meldung in den Nachrichten, abends der eigene Mord? Nein. Das schien ihr ein gewaltiges Stück außerhalb der Wirklichkeit.
Genauso wenig realistisch dünkte ihr die Vorstellung eines zufälligen zeitlichen Aufeinandertreffens zweier verschiedener Täter, der eine freitagnachts in Backnang am Werk, der andere etwa vierzig Stunden später, gerade mal sechzig Kilometer entfernt, beide mit der gleichen wohl pervers zu nennenden Vorgehensweise.
Nein, wenn keine neuen kontroversen Indizien auftauchten, musste sie davon ausgehen, dass es sich um einen Doppel- oder Serienmörder handelte. Was das in Bezug auf die Öffentlichkeit und die Medien sowie den Druck auf ihre Ermittlungen bedeutete, war ihr klar. Hinzu kam die Brutalität der verübten Taten. Männer nicht nur zu ermorden, sie vor ihrem Tod auch noch zu entmannen, wie die vorläufigen ärztlichen Diagnosen befanden, stellte eine deutliche Steigerung kriminellen Handelns dar. Neundorf ahnte jetzt schon, wie sich die widerlichsten Schmeißfliegen der Boulevard-Journaille auf diese beiden Morde stürzen würden.
»Weiß die Presse schon Bescheid?«, fragte sie ihren Kollegen.
Polizeiobermeister Benz schüttelte den Kopf. »Von mir nicht.«
»Ich bitte dringend um vorläufige Geheimhaltung.«
Der Beamte nickte.
»Wir werden vom LKA aus eine Pressekonferenz abhalten müssen. Aber das hat Zeit.«
Wichtig war jetzt vor allem, den Toten zu identifizieren. Fingerabdrücke, Genanalyse, Zahnabdruck, besondere Merkmale und so weiter. Je schneller sie den Namen des Mannes ermittelten, desto kleiner war der Vorsprung des Täters.
»Haben Sie schon die Körpergröße des Toten?«, fragte sie den Arzt.
Dr. Kessler zog sein Notizbuch hervor. »Etwa 1,78 Meter. Sie wissen, mit Beginn der Leichenstarre ist es sehr
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