Schwaben-Sumpf
irgendwann große Katastrophe.« Sie schaute die Kommissarin aus großen, um Hilfe und Beistand flehenden Augen an. »Ich jeden Tag beten, er wieder werden normal, bevor Unglück geschehen.«
Sie traut es ihm zu, überlegte Neundorf, ihrem eigenen Sohn. Kamen ihre Gebete bereits zu spät?
14. Kapitel
Dass sie in der Nacht so wenig Schlaf fand, lag nur zum Teil an ihr selbst. Zunächst hatte sie Schwierigkeiten, Johannes von der allzu stimmungsvollen Geburtstagsfeier eines Mitschülers loszueisen, die er seit dem Nachmittag besuchte. Sie hatte gehofft, das Abholen ihres Sohnes mit einem kurzen Abendspaziergang kombinieren zu können, fand sich dann aber bald im Wohnzimmer der Gastgeber wieder, wo die Feier des Nachwuchses von mehreren Müttern und Vätern lautstark und mit ausgiebigem Konsum alkoholischer Getränke begleitet wurde. Es blieben keine dreißig Minuten bis Mitternacht, als es ihr endlich gelungen war, ihren überglücklichen Sprössling ins Bett zu verfrachten.
Selbst Schlaf zu finden, erwies sich dann – aller Erschöpfung zum Trotz – als langwieriges und fürs Erste kaum zu verwirklichendes Unterfangen. Sie wusste selbst, dass das nicht allein der beruflich bedingten Abwesenheit ihres Lebensgefährten – Weiss war auf einer Tagung der Evangelischen Akademie in Bad Boll, die die neuesten Forschungsergebnisse zu Georg Elsers Leben präsentierte – oder dem Genuss zu vieler Cocktails zuzuschreiben war. Zu sehr sah sie sich enttäuscht, dass der Besuch bei Snezana Vukmirovic keine grundlegend neuen Erkenntnisse gebracht, vielmehr eher den Verdacht bestätigt hatte, der ältere Sohn der Frau habe Jessica Heimpolds Tod zu verantworten. Ob seine Gewaltbereitschaft vom Konsum bestimmter Filme angeregt oder verursacht wurde, spielte dabei nicht die entscheidende Rolle. Fakt war, dass der junge Mann seit einiger Zeit unbeherrschte Verhaltensweisen zeigte, denen das Mädchen durchaus zum Opfer gefallen sein konnte. An dieser Erkenntnis kamen sie nicht vorbei; sie sprach gemeinsam mit dem auf der Treppe gefundenen Blut so eindeutig gegen Dejan Vukmirovic, dass die offizielle Anklage gegen ihn nur noch eine Frage der Zeit war.
Was sollte man da die am Nachmittag während des Verhörs durch Kriminalhauptkommissar Felsentretter erfolgte Aussage des jüngeren Bruders, er erinnere sich jetzt wieder daran, kurz nach der Verabschiedung Jessica Heimpolds auf der Georg-Elser-Staffel die Silhouette eines Mannes wahrgenommen zu haben, anders als bloßes und dazu noch recht primitives Ablenkungsmanöver betrachten? Und trotzdem habt ihr das Mädchen einfach stehen lassen und seid weggerannt, hatte Felsentretter erwidert, mitten in der Nacht seht ihr zwei Superhelden einen unbekannten Mann und lasst die junge Frau allein zurück? Das glaubst du doch selbst nicht, du Balkankrieger, aber mir versuchst du allen Ernstes diesen Bären aufzubinden?
Nein, diese Behauptung entbehrte jeder Glaubwürdigkeit, sie war zu offenkundig der Not der verzweifelten Lage entsprungen und daher nicht wert, länger geprüft zu werden. Neundorf wollte sich gar nicht erst auf sie einlassen, versuchte, die Gedanken an Jessica Heimpold und die beiden verhafteten Männer aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen und langsam, Stück für Stück ins Reich der Träume abzutauchen. Wann ihr dies endlich geglückt war, wusste sie am frühen Donnerstagmorgen nicht zu beurteilen. Viel zu spät, ahnte sie nur, als ein durch Mark und Bein dringendes Geräusch sie mitten aus den Träumen riss und mit höllischen Kopfschmerzen wieder zu sich kommen ließ. Mechanisch streckte sie den Arm zur Seite, versuchte, den Wecker zum Schweigen zu bringen, stellte erst nach einer Weile vergeblicher Bemühungen fest, dass die Ruhestörung einer anderen Quelle zuzuordnen war. Das Läuten des Telefons drang schriller denn je an ihre Ohren. Entnervt beendete sie ihren Versuch, sich der Realität weiter zu verschließen, nahm den Hörer an sich.
»Stöhr hier, guten Morgen, Frau Neundorf. Es tut mir leid, dass ich Sie so früh störe, aber wir haben ein Problem.«
»Ein Problem? Was geht mich das an?«, murmelte sie schlaftrunken. »Wie viel Uhr ist es überhaupt?«
»Kurz nach fünf. Sehr früh, ich weiß, aber wir haben eine Leiche in Schwäbisch Gmünd. Ich fürchte, Sie müssen sich damit befassen.«
»In Schwäbisch Gmünd? Dafür habe ich keine Zeit. Steht kein Kollege zur Verfügung? Ich bin voll ausgelastet. Mit dem Tod des Mädchens auf der Sünderstaffel,
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