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Schwaben-Wahn

Schwaben-Wahn

Titel: Schwaben-Wahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Wanninger
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nicht erst seit kurzem, das geht schon mehrere Jahre so. Mit dem Tod meines Vaters fing es an. Sie glaubte, sie hätte den Unfall vorhergesehen. Zwei, drei Wochen nach der Beerdigung fing sie plötzlich damit an: ›Ich hätte ihn warnen müssen, warum habe ich es nicht getan?‹ Anfangs habe ich sie einfach nicht ernst genommen. Der Schock, dachte ich, der Schock wegen Vaters völlig unverhofftem Unfalltod.« Sie schwieg einen Moment, holte tief Luft. »Aber dann wurde es immer schlimmer. Anfangs alle paar Wochen, dann im Abstand von wenigen Tagen. Immer hat sie etwas vorhergesehen oder kündigt es an. Einen Unfall, eine Krankheit, irgendein bedrohliches Ereignis, nur selten etwas Gutes. Es ist nicht mehr zum Aushalten.«
    »Du hast noch nie davon erzählt.«
    »Hätte ich das tun sollen? Ich fand es nicht besonders vorteilhaft, weder für sie noch für mich. Ich hoffe nur, dass Johannes verschont bleibt.«
    »Ihre Prognosen sind immer völlig aus der Luft gegriffen?«
    Neundorf zögerte mit ihrer Antwort, schüttelte den Kopf. »Das ist ja das Beunruhigende. Ich kann ihre Visionen, oder wie immer ich das bezeichnen soll, nicht einfach als Schwachsinn abtun. Sie hat schon mehrfach Recht behalten. Frag mich nicht nach einer Erklärung, ich weiß keine. Aber manchmal trifft genau das ein, was sie vorhersagt. Auch wenn es im ersten Moment völlig abstrus klingt.«
    Braig schaute überrascht zu seiner Kollegin. »Du meinst, sie hat hellseherische Fähigkeiten?«
    Sie fuhr sich mit der Rechten über die Haare, zog dann ein Taschentuch vor, tupfte sich die Nase ab. »Du kannst es dir wahrscheinlich nicht vorstellen. Aber manchmal denke ich, das ist die einzige Erklärung, ja. Auch wenn ich mich immer vehement gegen die Existenz solcher Phänomene gewehrt und sie als dämliche Phantastereien und primitiven Aberglauben abgetan habe.«
    Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte, fühlte sich von ihren Worten ertappt. Die Zukunft vorherzusagen, Schicksalsschläge Tage oder Wochen vor ihrem Eintreffen anzukündigen war auch für ihn Hokuspokus ohne jede reale Grundlage. Eine Angelegenheit von Verrückten, bestenfalls Leichtgläubigen, die sich – ungebildet und von irrationalen Gefühlen geleitet – allzu schnell von dem Gefasel aufgeblasener Wichtigtuer beeindrucken ließen. Überprüfte man im Nachhinein die angeblich eingetroffenen Prophezeiungen dieser
Hellseher
, stellte sich schnell heraus, dass es sich um raffiniert formulierte Allgemeinplätze handelte, die in so viele verschiedene Richtungen interpretiert werden konnten, dass eine davon immer eintraf. Dass jetzt seine sonst so kritische Kollegin mit solchen Vorstellungen daherkam, verblüffte ihn sehr.
    Braig schaute auf seine Uhr, sah, dass er sich auf den Weg machen musste, wenn er den Termin mit Wangbiehler pünktlich wahrnehmen wollte.
    »Du musst gehen«, sagte Neundorf.
    Er nickte. »Der Allmächtige setzt pünktliches Erscheinen voraus. Zumindest was seine Gesprächspartner anbetrifft.«
    »Du informierst mich?«
    »Ich fürchte, es wird die Telefongebühren nicht wert sein.« Sie winkte ihm zu, lief auf den Flur. Braig nahm seinen Notizblock an sich, warf sich die Jacke über die Schulter, verließ sein Büro. Die Luft hatte noch weit stärker abgekühlt, als er vom Morgen in Erinnerung hatte. Fast alle, die ihm entgegenkamen, trugen dicke Pullover, Sweat-Shirts oder Mäntel. Er hüllte sich in seine Jacke, spürte den Druck hinter seiner Schläfe. Das Blut pochte, stechende Schmerzen, wie von Nadelspitzen verursacht, machten ihm zu schaffen. Er beschleunigte seine Schritte, beeilte sich, die Stadtbahn-Haltestelle zu erreichen. Wann immer sie diesen Fall gelöst haben sollten, er musste lernen, es langsamer angehen zu lassen. Weniger in seinem Büro vor sich hinbrüten, immer neuen Spuren hinterher hetzen, mehr für sich selbst Zeit finden, sich um Ann-Katrin und seine eigenen Interessen kümmern, an der frischen Luft spazieren gehen, Sport treiben. Die Hektik vergessen. Er atmete tief durch, versuchte, die Schmerzen in seinem Kopf zu verdrängen.
    Das ließ erst nach, als er auf der hintersten Bank der Stadtbahn Platz genommen hatte. Braig betrachtete den gut besetzten Wagen, verfolgte das Treiben der Passagiere. Zwei junge Männer, die eifrig miteinander sprachen, wahrscheinlich den neusten Klatsch austauschten. Eine Gruppe älterer Frauen, in dicke Anoraks gehüllt, mit den Fingern auf die Gebäude deutend, an denen sie vorbeifuhren. Mehrere tief

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