Schwaben-Wahn
verschleierte Mädchen, die an der Tür auf die nächste Haltestelle warteten.
Braig beruhigte sich zunehmend. Vielleicht sollte ich mich öfter in die Bahn zurückziehen und Menschen beobachten, überlegte er, anstatt mir den Kopf über mögliche Drahtzieher immer neuer Verbrechen zu zermartern. Er verließ den Zug am Schlossplatz, eilte die Treppe nach oben. Über die weitläufige, mit Frühlingsblumen geschmückte Anlage fegte ein eiskalter Wind. Nirgends Menschen, die verweilten, keine Jugendlichen, die miteinander schäkerten.
Er zog seine Jacke fest zusammen, lief mit Riesenschritten auf die Alte Kanzlei zu. Als er das Restaurant betrat, sah er Wangbiehler an einem Tisch unweit des Eingangs sitzen. Der mit einem hellbraunen Anzug und einer gelben Krawatte bekleidete Mann hatte ein Glas am Mund, winkte ihm im Trinken zu. Das Lokal war gut besetzt, Männer und Frauen zwischen dreißig und fünfzig in der Überzahl, vermutlich Beschäftigte der umliegenden Büros und Ministerien. Braig steuerte auf den Unternehmer zu, wurde mit einem jovialen »Schön, dass Sie die Zeit gefunden haben« begrüßt. Er nickte seinem Gesprächspartner zu, nahm ihm gegenüber Platz.
»Ihr Sohn ist nicht hier?«, fragte er.
Wangbiehler runzelte seine Stirn. »Wollen Sie sich nicht erst anhören, was ich Ihnen zu sagen habe?«
»Er wird von meinen Kollegen gesucht.«
Sein Gegenüber winkte abfällig ab. »Das ist Schnee von gestern. Sie sind offensichtlich nicht auf dem neusten Stand.«
Braig verzichtete auf eine Antwort, weil eine Kellnerin an den Tisch trat und ihnen zwei Karten reichte. Obwohl er Hunger hatte, schüttelte er den Kopf, bestellte stattdessen Kaffee. Er hatte kein Interesse, seinen Aufenthalt in der Gegenwart dieses Mannes unnötig in die Länge zu ziehen.
»Zu teuer?«, fragte Wangbiehler. Er grinste süffisant, zeigte sich großzügig. »Ich lade Sie ein. Suchen Sie sich aus, was Sie wollen.«
»Vielen Dank. Ich habe nicht viel Zeit.«
Sein Gegenüber zuckte bedauernd mit der Schulter, bestellte einen Sauerbraten in Riesling und gemischten Salat. Die Frau eilte dienstbeflissen davon.
»Keine Zeit?« Wangbiehlers Grinsen zeigte deutlich, was er eigentlich meinte.
Ein Beamter, der keine Zeit hat?
Braig verzichtete auf eine Antwort. »Darf ich wissen, was Sie mir mitzuteilen haben?«, fragte er stattdessen.
Der Unternehmer kramte in seiner Jackentasche, brachte einen weißen Umschlag zum Vorschein, reichte ihn dem Kommissar. »Mein Sohn ist kein Verbrecher, auch wenn Sie ihn gern in diese Ecke stellen wollen.«
»Ich will ihn in überhaupt keine Ecke stellen. Das tut er selbst.«
Wangbiehlers Miene zeigte deutlich, dass er Mühe hatte, sich im Zaum zu halten. »Ich wiederhole: Er ist kein Verbrecher«, sagte er dann, die Worte einprägsam betonend, »aber er ist ein Idiot.«
Braig schaute überrascht zu ihm hinüber.
»Hier. Lesen Sie.« Der Mann deutete auf das Couvert.
Der Kommissar öffnete es, entnahm ihm ein etwa zur Hälfte bedrucktes Blatt. »Was soll ich damit?«
»Mein Sohn ist ein Idiot, ich gebe es zu. Was Sie hier lesen, hat er meiner Sekretärin diktiert.«
Braig hielt das Blatt zur Seite, weil die Kellnerin den Kaffee servierte, bedankte sich, überflog dann den Text.
Am letzten Sonntag fuhr ich abends durch Fellbach. Als ich zufällig an Herzogs Haus vorbeikam, trat er auf die Straße. Seine Mutter schlug mit einem Schirm wütend auf ihn ein. Ich wurde neugierig, weil ich beide seit der Zeit kenne, als er mir aus reiner Schikane den Führerschein vorenthielt. Ich beobachtete, wie beide unter heftigem Schimpfen der Frau zu seinem Auto, einem grauen E-Klasse-Daimler, eilten. Sie fuhren mit hohem Tempo los, ich hinterher. Irgendetwas stimmte nicht, hatte ich den Eindruck. Sie fuhren nach Waiblingen und dann weiter nach Hohenacker. Vor einem der Hochhäuser gleich über dem Bahnhof stellten sie das Auto ab. Ich sah sie in einem der Häuser verschwinden. Es dauerte keine fünf Minuten, bis Herzog wieder auf die Straße stürzte, von seiner Mutter und einer bildhübschen jungen Frau verfolgt. Sie schrien sich gegenseitig an und plötzlich spuckte die junge Frau Herzog mitten ins Gesicht. Das war unmittelbar vor meinem Auto, daher konnte ich alles sehr gut verfolgen. Beide Frauen schlugen auf Herzog ein und verfolgten ihn zu seinem Wagen. Er wollte allein wegfahren, wurde aber von seiner Mutter daran gehindert. Die beiden Frauen stiegen in sein Auto und schrien und schlugen weiter auf ihn
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