Schwaben-Wut
seiner Brille, um überhaupt etwas zu tun. »Er ist also ausgebrochen, um mit einigen Leuten abzurechnen. Sehe ich das richtig?«
Braig legte den Kopf schief, fuhr sich über die Stirn. »Wer ist dann der Nächste?«, fragte er. »Oder glaubt ihr, er ist schon zufrieden?«
Die anderen sahen ihn an. Das war genau die Frage, vor deren Antwort sie sich am meisten fürchteten. Standen sie nicht am Ende einer Serie von Verbrechen, sondern erst am Anfang? Sollten ihre schlimmsten Vorstellungen von dem jugendlichen Monster, das aus dem Gefängnis ausgebrochen war und jetzt blutige Rache übte, Wirklichkeit werden?
»Vielleicht kommt er ja nicht zurück.« Bernhard Söhnle versuchte, seine Kollegen zu beruhigen.
»Du meinst, er versteckt sich im Süden?«
»Wäre es für ihn nicht sicherer?«
Neundorf nickte. »Ganz bestimmt. Die Grenzen werden von Spezialeinheiten überprüft, die Anweisung dazu ist unterwegs. Sein Risiko, erwischt zu werden, ist groß. Andererseits muss er damit rechnen, jetzt überall – zumindest in Westeuropa – gesucht zu werden. Und wenn er dann niemand kennt, bei dem er sich verstecken kann, fangen die Schwierigkeiten an. Wer weiß, ob er da nicht doch versucht, wieder zurückzukommen, gerade auch, weil er noch mit einigen Leuten abrechnen will.«
»Vielleicht war es genau seine Absicht, uns glauben zu lassen, dass er jetzt im Ausland Unterschlupf sucht, wir fahnden deshalb in Frankreich nach ihm und er begleicht derweil in Ruhe zu Hause alte Rechnungen.«
»Also sollten wir uns neben der Fahndung nach Stecher auf die Frage konzentrieren, wer der Nächste sein könnte, den er sich als Opfer ausgesucht hat. Vielleicht liefert uns die Antwort darauf zugleich auch die beste Chance, ihn festzunehmen.«
»Das mag sein, ja«, sagte Neundorf, »aber um diese Frage beantworten zu können, müssten wir wissen, warum Stecher Greiling ermordete – falls er es wirklich war. Welcher Zusammenhang besteht zwischen ihm und dem Makler? Der Tod dieses Bartle scheint mir leichter nachvollziehbar. Bartle war schließlich der Hauptbelastungszeuge.«
»Niemand in der Familie Greiling hat den jungen blonden Mann je gesehen«, erklärte Braig. »Ich zeigte das Fahndungsbild sowohl der Witwe als auch Tochter und Sohn. Die Sekretärin konnte ebenfalls nichts damit anfangen. Sie wissen angeblich überhaupt nicht, in welcher Beziehung Stecher zu ihrem Vater gestanden haben soll. Die drei Zeugen, die den blonden Mann abends auf dem Straßenfest sahen, erklärten dagegen übereinstimmend, dass es sich bei ihm durchaus um Stecher gehandelt haben kann. Ich kann nicht beurteilen, inwieweit die fromme Familie eventuell etwas verheimlicht, was ein weniger gutes Licht auf ihren ermordeten Vater oder auf sie alle werfen könnte. Andererseits schien mir zumindest die Tochter, Frau Carl, offen und ehrlich zu sein, zumal sie sich mit dem Rest des Clans ihrer Religion wegen überworfen hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mit etwas hinter dem Berg hält, falls sie informiert ist. Vielleicht wusste tatsächlich nur der Ermordete von einer Verbindung zu Stecher.«
»Oder diese angebliche Verbindung gibt es überhaupt nicht«, warf Bernhard Söhnle ein.
»Du meinst ...«
»Zufall. Greiling kam Stecher irgendwie in die Quere. Aus einem ganz anderen Grund. Wir machen uns verrückt, weil wir den Anknüpfungspunkt zwischen den beiden nicht finden und in Wirklichkeit gibt es ihn überhaupt nicht. Ha ha! Sie liefen sich aus Zufall über den Weg. Vielleicht plante Stecher ein Attentat auf eine ganz andere Person und Greiling störte ihn dabei ...«
Neundorf starrte Söhnle elektrisiert an. »Was sagst du da? Eine andere Person? Greiling kommt Stecher nur in die Quere, unglücklicherweise und im falschen Moment und der Kerl räumt ihn aus dem Weg, weil er keinen Zeugen brauchen kann? Wo ist dann aber sein Opfer?« Sie blickte sich fragend um, überlegte. »Kam er vielleicht nicht mehr dazu, sich der Person zu nähern, auf die er es eigentlich abgesehen hatte, weil inzwischen Greilings Leiche entdeckt wurde? Wäre das die Lösung?«
Söhnle blickte sich ratlos um. »Die Lösung? Ein Vorschlag vielleicht.«
»Nehmen wir an, du hast recht. Wer könnte die Person sein, die er als Opfer erkoren hatte? Einer der Festbesucher? Irgend jemand, der in der Nähe des Tatortes saß?«
Die Kaffeemaschine blubberte, beanspruchte für einen Augenblick Neundorfs Aufmerksamkeit.
»Gibt es eine Verbindung Stechers nach Backnang?«, fragte
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