Schwaben-Wut
Straftäter einen Kontaktversuch unternommen haben, musste er äußerst raffiniert vorgegangen sein. Das LKA hatte die erfahrensten Beschatter aufgeboten, die zur Verfügung standen. Braig sah die Kamera mit dem mächtigen Teleobjektiv direkt auf sich gerichtet, als er an der Klingel unten an der Haustür läutete.
Monika Stecher wohnte im zweiten Obergeschoss, erwartete ihn an der Wohnungstür. Neundorf hatte Braig vor ihrer Tour nach Südfrankreich noch ausführlich über ihre Gespräche mit der Frau informiert. Dennoch war er vollkommen überrascht, als er vor ihr stand.
Er hatte mit einer verhärmten, von der Last und Enttäuschung der letzten Jahre gezeichneten Frau gerechnet, einer Person, der die Schicksalsschläge, die ihr das Leben in Form ihres auf eine schiefe Bahn geratenen Sohnes auferlegt hatte, deutlich anzusehen waren, wunderte sich über die gepflegte, vornehme Erscheinung, die ihm die Tür öffnete. Monika Stecher war Anfang Fünfzig, wie er aus den Akten wusste, hatte dunkelblonde Locken und ein freundliches, dezent geschminktes Gesicht. Sie trug eine weiße Bluse, dazu einen knielangen hellen Rock, streckte ihm die Hand entgegen.
Außer Puste von den vielen Stufen begrüßte er sie, zeigte seinen Ausweis. Monika Stecher führte ihn in ein kleines, bunt eingerichtetes Wohnzimmer. Zwei rote Sofas, ein kleiner runder Tisch, eine schmale Bücherwand.
Braig nahm Platz, beobachtete die Frau, die ihm Kaffee anbot. Ihr Alter konnte sie nicht verbergen, Falten auf der Stirn und unter den Augen zeigten unbarmherzig den Verlust ihrer Jugend, doch begegnete sie ihm mit so viel natürlicher Selbstsicherheit, dass er glaubte, sich in der Wohnung getäuscht zu haben.
Er nahm ein Glas Wasser. »Wann müssen Sie wieder zur Arbeit?«, fragte er.
Sie setzte sich auf das andere Sofa, strich ihren Rock zurecht. »Um 22 Uhr«, antwortete sie, »zum Glück habe ich keinen weiten Weg. Die Post liegt auf der anderen Seite vom Bahnhof.«
Braig sah die Gleise direkt unterhalb des Fensters, nickte. »Die ganze Nacht?«
»Bis sechs Uhr. Zuerst erledigen wir den Rest des Versands. Nach Mitternacht treffen dann die ersten Briefe für unsere Region ein.«
»Sie arbeiten jede Nacht?«
»Alle drei Wochen, je sechs Nächte. Der Rest ist Spätschicht.«
»Ein harter Job.«
Sie trank, zuckte mit der Schulter. »Was heißt hart. Ich bin es gewöhnt. Früher als Krankenschwester war es aufregender. Da ging es um Menschenleben, nicht um Papier. 16 Jahre lang.«
»Warum haben Sie den Beruf aufgegeben?«
Monika Stecher nahm das Glas abrupt vom Mund, stellte es mit harter Hand auf den Tisch. »Warum wohl?« Sie lachte laut. »Sie sind gut.«
»Ihr Sohn?«
»Haben Sie die Berichte in den Medien nicht gesehen? Im Fernsehen und den Schundblättern? Die Mutter des Monsters die ganze Nacht allein auf der Station. Ist sie vom Wahnsinn ihres Sohnes infiziert? Haben Sie keine Angst um Ihre schwerkranken Angehörigen, die von ihr umsorgt werden? Wann schlägt sie zum ersten Mal zu?«
Braig wusste um die Praxis des Schmuddeljournalismus, ahnte, was die Frau erduldet haben musste. Kaum ein Tatort, kaum ein Opfer, bei dem nicht Minuten nach dem Eintreffen der Polizei die ersten Aasgeier, wie sie es unter Kollegen auszudrücken pflegten, auftauchten und rücksichtslos mit einem Blitzlichtgewitter und grellen Scheinwerfern auf alles los gingen, was in irgendeiner Weise mit dem Verbrechen zu tun haben konnte. Im Kampf um die besten Bilder, die ergreifendsten Szenen, gab es keine Grenzen mehr, keinerlei Tabus. Rücksichtsloses Vorpreschen war Trumpf. Wer am schnellsten die aufsehenerregendsten Filme lieferte, war der King. Das allein zählte. Andere Werte existierten nicht mehr.
Zum Glück traf dieses Verhalten nicht auf alle Journalisten zu. Braig kannte viele der in der Region Stuttgart akkreditierten Pressevertreter, hatte etliche von ihnen in langen, zum Teil sogar vertraulichen Gesprächen aufrichtig schätzen gelernt, traf sich mit einigen in ruhigen Momenten auch gern zu einem informativen Meinungsaustausch, wobei man sich gegenseitig half, soweit es möglich war.
Was sich in den letzten Jahren aber einige charakterlose Schreiberlinge, die pro forma unter der Berufsbezeichnung »Journalist« firmierten, gegenüber Polizeibeamten, Opfern und deren Angehörigen geleistet hatten, war nicht mehr nur als üble Entgleisung zu bezeichnen. Bilder von schwerverletzten Menschen wurden rücksichtslos im Fernsehen oder der Boulevardpresse
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