Schwaben-Wut
der Umgebung zu befragen, alle Busfahrer, Taxiunternehmer, Bahnbediensteten zu interviewen, ob sie in den letzten Stunden, speziell am Montag, irgendeine ihnen unbekannte Person, einen Deutschen, entdeckt, mitgenommen oder gesehen hätten. Jetzt, am späten Nachmittag des Dienstag, lag das vorläufige Ergebnis der mühseligen Aktion vor: Außer einer unauffälligen Frau war niemand Unbekanntes unterwegs gewesen.
Neundorf atmete tief durch. Was immer diesen Stecher antrieb, seine Verbrechen zu begehen, er verfügte nicht nur über eine Unmenge von Wut und Hass, sondern auch über eine geradezu teuflische Intelligenz und Geschick, sich vor seinen Verfolgern zu verbergen. Oder war es nur Glück, von bösen Geistern vermittelte unverdiente Gunst? Sie wusste es nicht, hoffte nur, dass die Suche der Kollegen doch noch von Erfolg gekrönt sein würde.
Neundorf warf einen letzten Blick auf die Umgebung, lief am Rand des Weinbergs abwärts auf das Anwesen Klaus Heitorfs zu. Das Gespräch mit dem Mann und seiner französischen Lebensgefährtin hatte ihr zwar keine neuen Erkenntnisse über den Aufenthalt oder die Ziele Stechers, wohl aber über sein Verhältnis zu Benjamin Bartle gebracht.
Klaus Heitorf, ein kräftiger Mittvierziger, war vor acht Jahren entnervt aus seinem Beruf als Gymnasiallehrer in Mannheim ausgestiegen und hatte sich nach einer Zusatzqualifikation als Sozialpädagoge hier in der Nähe Carcassonnes niedergelassen, um schwererziehbare oder vorbestrafte Jugendliche in Einzeltherapie auf einem landwirtschaftlichen Anwesen zu sozialem und weitgehend aggressionsfreiem Verhalten zurückzuführen. Bisher war ihm dies – bis auf einen 15-jährigen, in einem Heim aufgewachsenen, schwer verhaltensgestörten Jungen, der mehrfach ohne jeden Anlass Menschen, darunter auch Heitorfs Partnerin, überfallen und niedergeschlagen hatte – gut gelungen.
Nach sechs bis zwölf Monaten gemeinsamem Leben und Arbeiten auf seinem Hof hatten die jungen Männer einen neuen Start in ein selbstbestimmtes Leben gewagt und dies auch – jedenfalls soweit Heitorf darüber Kenntnis hatte – weitgehend konfliktfrei bewältigt. So viele Probleme und Auseinandersetzungen Heitorf mit seinen Schutzbefohlenen auch ausfechten musste, dass einer von ihnen, noch dazu während der Arbeit auf dem Hof, von seiner eigenen Vergangenheit eingeholt und ermordet werden könnte, damit hatte er niemals gerechnet.
»Benjamin war kein einfach zu handhabender Mensch«, sagte Heitorf überzeugt, als sie kurz nach dem Mittagessen auf der großen, von dunklen Steinen eingefassten Veranda zu dritt über den Ermordeten gesprochen hatten, »er machte sich das Leben selbst schwer. Eine problematische Persönlichkeitsstruktur – hin und hergerissen zwischen der Erkenntnis, sich an allgemeingültige Regeln halten zu müssen, um menschliches Miteinander überhaupt zu ermöglichen und dem kindlichen Trotz, etwas Besonderes zu sein und deshalb über allen Normen zu stehen.«
Bartle war, Neundorf hatte seine Akte unterwegs in der Snackbar des Nachtzuges nochmals ausführlich studiert, nach langer reiflicher Überlegung des Jugendrichters wegen einer nicht ableugbaren Verstrickung in Stechers Tierquälereien, dessen Überfällen auf junge und ältere Mitbürger sowie der nicht ganz auszuschließenden Mitverantwortung des damals 15-jährigen am Mord im Stuttgarter Schlossgarten zu einer einjährigen Einzeltherapie fernab seines instabilen Elternhauses verpflichtet worden. Seine Mutter war alkoholsüchtig, der Vater lebte meist mit anderen Frauen zusammen.
Heitorf hatte sich nach Kenntnis der geschehenen Verbrechen und ausführlicher Rücksprache mit dem Richter auf Bartle eingelassen und alles versucht, dem Jungen neue, sinnvolle Lebensperspektiven zu vermitteln.
»Das hätte gut ausgehen können«, meinte Heitorf, »Benjamins innere Einstellung stimmte. Er wollte es schaffen. Das ist das A und O bei der ganzen Sache.«
»Wusste er, dass Stecher Rachegedanken hatte?«
Der Mann runzelte die Stirn, fuhr sich mit der Linken durch die Haare. »Warum sollte er?«, fragte er. »Wir kamen nie auf dieses Thema.« Er überlegte, blickte nachdenklich in die Ferne. »Das bedeutet aber nicht viel. Wir sprachen nur selten über seine Vergangenheit. Benjamin war sehr verschlossen. Er taute erst in den letzten Wochen auf. Aber auch das nur langsam.«
»Stecher fühlt sich wahrscheinlich von ihm verraten. Bartle war derjenige, der der Polizei seinen Namen nannte.«
Heitorf
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