Schwaben-Wut
überlegte nicht lange. »Er hat gute Kontakte, sogar sehr gute nach Backnang. Ein Mitschüler von damals besucht ihn heute noch, im Gefängnis. Und ein Lehrer, auch der war schon bei ihm in Hall. Sie werden Ihnen dasselbe erzählen, was Sie auch von mir hören: Lassen Sie Andreas aus dem Spiel.«
Braigs Finger zitterten, als er sich die Namen und Adressen notierte.
18. Kapitel
Margita Karic packte die übel riechende Plastiktüte, warf sie in den gelben Container. Dann die leere Coladose, zwei halbvolle Puddingbecher, eine angeschimmelte Käsepackung, die Überreste eines benutzten Kondoms.
Der Schweiß lief ihr von der Stirn, tropfte auf ihre verschmierte Schürze. Margita Karic fand keine Zeit, den Handschuh abzustreifen und sich übers Gesicht zu fahren. Eine Plastikpackung mit den Resten schwarzbrauner Gartenerde, eine klebrige Fantaflasche, zwei mit Fleischresten verschmierte Hundefutterdosen. Das Band lief schnell, ließ ihr keine Chance, auch nur einen Augenblick auszuspannen. Zwei ausrangierte Videobänder, die zerschnittenen Überreste eines abgefahrenen Autoreifens, eine über und über mit hellbraunem Kot verschmierte Windel. Sie packte das stinkende Stück, warf es in den Abfallbehälter.
Die Luft schien zu stehen, obwohl die Fenster am anderen Ende der Halle weit geöffnet waren, der Gestank war fast unerträglich. Margita Karic konzentrierte sich auf das Band, warf das klebrige Plastik, das fetttriefende braune Papier, die silbrige Schokoladeverpackung in die entsprechenden Container.
Rings um sie herum kämpften ihre Kolleginnen und Kollegen gegen die schnell laufenden Förderbänder, füllten die Behälter, die alle paar Minuten von fleißigen Händen ausgetauscht wurden. Eine zersplitterte Flasche, Reste von Tablettenschachteln, ungespülte Joghurtbecher, Cremedosen.
Die Abfallberge nahmen kein Ende, beschäftigten die Arbeitskräfte an den Bändern bis weit in die Nacht. Fast alle Nationalitäten Südeuropas, dazu Asiaten und Afrikaner waren anwesend. Schwabens Dreck musste beseitigt werden. Der Vertragspartner des Dualen Systems Deutschland hatte keine Probleme, den Betrieb am Rand Stuttgarts auszulasten. Der Nachschub rollte ohne Unterlass.
Margita Karic atmete tief durch, als die Sirene um 22 Uhr aufheulte. Schichtende. Die Bänder kamen zum Stehen, kurze Gelegenheit, die Handschuhe und die Schürze abzustreifen und sich zu erfrischen.
Sie spurtete zu einem der Waschbecken, winkte Slavka Mirulic, der einzigen Person in der großen Halle, deren Sprache sie verstand, beeilte sich, die Stadtbahn zehn nach zehn zu erreichen. Sie war aufgeregt, wollte wissen, ob der Brief endlich gekommen war.
Der Zug fuhr pünktlich, eilte in hohem Tempo durch die nächtlichen Vorstadtstraßen Stuttgarts. Dragan Karic stand an der Haltestelle am Rand Bad Cannstatts, holte seine Frau an der Neckartalstraße ab. Sie sah es schon in seinem Gesicht, las es in seinen Augen.
»Pismo je stigla«, sagte er, vor Freude strahlend, »der Brief ist gekommen.«
Sie fielen sich in die Arme, verharrten einige Sekunden vor Glück.
»Wie lange?«, fragte sie auf dem Weg in die Wohnung.
»30. September«, erklärte Dragan Karic.
Sie atmete tief durch, dankte im Stillen Gott, dem sie insgeheim unzählige Bittgebete emporgesandt hatte. Ende September, das reichte. Damit konnte Mirela die 11. Klasse des Gymnasiums erfolgreich abschließen, Oliver die mittlere Reife ablegen und sie und ihr Mann, der als ausgebildeter Elektriker bei einem Fellbacher Handwerker arbeitete, waren imstande, noch ein paar hundert Mark zurückzulegen, die sie für den Aufbau ihres im Bürgerkrieg vollkommen zerstörten Hauses dringend benötigten. 30. September, das waren, von heute an berechnet, noch mehr als drei Monate. Juli, August, September. Drei Monate, in denen sie sich auf die Rückkehr in die alte Heimat gut vorbereiten konnten.
Mirela war gerade zehn Jahre alt, Oliver noch nicht ganz Neun, als sie 1992 ihr bosnisches Dorf im Beschuss der immer näher rückenden feindlichen Kamarilla Hals über Kopf verlassen mussten. Ihre Eltern hatten den Einschlag einer von den nahen Bergen aus abgefeuerten Bombe nicht überlebt, Margita Karics Schwester war mitsamt ihren Kindern in einen serbischen Hinterhalt geraten und brutal vergewaltigt und ermordet worden, wie ein Nachbar, der alles miterlebte, berichtet hatte. Als es auch in ihrem eigenen Dorf losging, nutzten sie die buchstäblich letzte Sekunde, flohen mitsamt den Kindern im Schutz der
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