Schwaben-Zorn
und lieblos in sich hineingestopften belegten Broten, kalten Pizzastücken oder Schokoriegeln zufrieden gewesen. Was hatte es gebracht?
Er dachte an die Begegnung mit Robert Bangler, dem Adoptivvater des jungen Opfers, den er in dessen Mittagspause in seinem Büro aufgesucht hatte. Der Mann war ihm auf Anhieb unsympathisch gewesen. Der gleiche wehleidige Gesichtsausdruck wie bei seiner Frau, das gleiche unbegreifliche Gefasel vom satanischen Lebensstil der Ermordeten, wie er es vorher schon in Schwaikheim über sich hatte ergehen lassen müssen.
Ein perfektes Paar, war er sich klar geworden, beide zu Hause in einer Welt bigotten Wahns. Je länger der Mann den angeblichen Irrweg seiner abtrünnigen Tochter in drastischen Worten geschildert hatte, desto stärker war Braigs Widerwille angewachsen, sich die absurde Vorstellung noch länger anzuhören. Die Kindheit der beiden adoptierten Mädchen musste über weite Strecken hinweg zu einem psychischen Martyrium ausgeartet sein – ein Wunder nur, dass sie nicht schon früher aus dem unsichtbaren Gefängnis ausgebrochen waren.
Robert Bangler war Mitte fünfzig, hatte ein breites, rundliches Gesicht und graue Stoppelhaare auf dem Kopf, deren Bürstenschnitt ihm ein militärisch anmutendes Aussehen verlieh. Er arbeitete in der Verwaltung einer Versicherung nahe dem Fellbacher Bahnhof, hatte die von seinem Besucher übermittelte Todesbotschaft mit heftigem Kopfnicken schweigend entgegengenommen, geradeso, als habe er sie aufgrund des falschen Lebenswegs der bösen Tochter längst erwartet. Unmittelbar darauf war er in einen Monolog verfallen: wehleidiges Gejammer über die schlimmen Verfehlungen der Ermordeten; bar jeden Mitgefühls, wie es Braig erschien.
Der Kommissar hatte, bedrängt von stechenden Kopfschmerzen, seine wachsende Abscheu gespürt und keinen Grund gesehen, dem Mann weiterhin höfliche Rücksichtnahme vorzuheucheln, war ihm mitten ins Wort gefallen.
»Ihre Frau hat Sie nicht angerufen, Sie von meinem Besuch und dessen Anlass informiert?«
»Nein.« Bangler hatte seinen Kopf geschüttelt, dazu völlig unbeteiligt aus dem Fenster geblickt. »Weshalb sollte sie?«
Braig war es schwer gefallen, ruhig auf seinem Stuhl sitzen zu bleiben. »Wer kann es getan haben?«, hatte er in unüberhörbar schroffem Tonfall gefragt, »wo müssen wir Ihrer Meinung nach den Täter suchen?«
Banglers Augen waren ohne jedes Verständnis geblieben. »Was spielt das für eine Rolle?«
»Haben Sie kein Interesse daran, den oder die hinter Gitter zu bringen, die Ihre Tochter auf dem Gewissen haben?«
»Sie ist nicht mehr meine Tochter.« Der Mann hatte nicht einmal mehr ihren Vornamen ausgesprochen. »Es war ihre eigene Entscheidung, uns zu verlassen.«
Braig war fluchtartig aufgebrochen, nachdem er Robert Bangler wenigstens den letzten Aufenthaltsort der Ermordeten hatte entlocken können. »Beutelsbacher Straße in Endersbach.«
Er hoffte, dem Mann und seiner Frau nicht mehr gegenübertreten zu müssen. Was war das für eine religiöse Überzeugung, die Menschen nur Mitgefühl und Interesse zukommen ließ, solange sie dem eigenen, weitabgewandten Klüngel angehörten? Andersdenkende blieben ausgeschlossen, verdienten nicht einmal als Familienangehörige Aufmerksamkeit und Respekt. Sie wurden als »dem Satan verfallen« diffamiert und mit unerbittlicher Schärfe als minderwertige Sünder gebrandmarkt.
Braig hatte Mühe gehabt, den Zorn und den Frust über soviel Ignoranz zu bändigen. Mit rasenden Kopfschmerzen und bohrendem Hunger war er auf die Straße getreten, empfangen von dem feuchtkalten Nebelmeer, das an diesem Tag das ganze Land unter sich begrub. Er wusste nicht, was schlimmer war: die depressive Stimmung in seinem Inneren oder die jeder Lebensfreude abholde Wetterlage draußen.
Unterhalb des Fellbacher Bahnhofs blieb er stehen, griff nach seinem Handy, ließ sich mit Ann-Katrins Mutter in Ludwigsburg verbinden. »Wie geht es ihr?», fragte er direkt.
»Sie schläft immer noch«, antwortete Irene Räuber, »sie sagen, wir müssen ihr Zeit lassen.«
»Du warst dort?«
»Bis kurz nach elf. Ich bin gerade gekommen. Es geht über meine Kraft. Ich benötige Abstand. Theresa ist bei ihr. Sie will bis heute Abend bleiben.«
Braig kannte Ann-Katrins Schwester gut, hatte sich oft mit ihr unterhalten. »Ich werde ebenfalls nach ihr schauen«, sagte er. »Sobald ich mich von hier lösen kann.«
»Du hast einen neuen Fall?«
»Eine junge Frau. Heute Nacht in
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