Schwaben-Zorn
alle drei bestürmten, bis zum Abi zu bleiben. Sie ließ sich nicht erweichen.«
»Wie alt ist sie?«
»Neunzehn. Sie war in der 13. Klasse. Nächsten Juni hätte sie ihr Abitur gehabt.«
»Sie können sie nicht verstehen?«
»Doch. Ein Stück weit schon. Sie wollte alle Verbindungen zu ihrem bisherigen Leben abbrechen. Alle. Obwohl der Wahnsinn, den sie hinter sich haben, Rebekka und Christina«, sie unterbrach kurz ihren Redefluss, schaute Braig betroffen an, sprach dann langsam weiter, »obwohl dieser Wahnsinn allein auf ihre Alten zurückgeht und mit der Schule überhaupt nichts zu tun hat. Wenn Sie ihre Adoptiveltern kennen würden, könnten Sie sie verstehen. Unter Garantie.«
»Ich habe sie getroffen, heute Morgen«, sagte er, »die Mutter und den Vater.«
»Und?«
»Ersparen Sie mir bitte, mich dazu zu äußern.«
Michaela Schneitter nickte. »Sie müssen neu anfangen, vollkommen neu. Rebekka und Christina. Beide.« Sie merkte, was sie gesagt hatte, begann wieder zu weinen. Tränen liefen über ihre Wangen. »Wie ist es passiert?«
»Sie wurde ermordet. Heute Nacht.«
»Ermordet?« Sie starrte ihn ungläubig an, wie einen Besucher von einem fremden Stern, schluckte heftig. »Aber wer, wieso?«
»Wir wissen es nicht«, antwortete Braig, »wir haben überhaupt keinen Anhaltspunkt.«
Sie schüttelte heftig den Kopf, schluckte, schien zu ersticken. »Ihre Alten«, stieß sie schließlich hervor, »ihre Alten oder irgendeiner aus diesem frommen Haufen.«
Braig horchte auf. »Ihre Eltern?«
»Mord? Wer denn sonst?« Sie versuchte, sich die Augen trocken zu wischen, zog ein neues Taschentuch aus der Packung. »Was glauben Sie, wie die sie bedroht und bedrängt haben? Ununterbrochen. Können Sie sich vorstellen, was bei uns los war, die ersten Wochen nach Rebekkas Einzug?«
»Von welchen Drohungen sprechen Sie?«
»Von welchen Drohungen?« Michaela Schneitter faltete das neue Papiertaschentuch auseinander, rieb sich übers ganze Gesicht. Ihre Augen schienen immer noch wässrig verschleiert. »Zwei, drei Tage nach ihrem Umzug. Das Telefon läutete ohne Unterbrechung, Tag und Nacht. Und dann stand ihr Alter vor unserer Tür, samt Verstärkung.«
»Robert Bangler?« Braig war völlig überrascht. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der Mann den von ihm als »Sodom und Gomorrha« bezeichneten Ort persönlich aufsuchen würde. »Er war hier?«
»Drei oder vier Mal. Zum Schluss sogar mit einem anderen Heiligen aus diesem Haufen.«
»Wen meinen Sie?«
»Was weiß ich? Fragen Sie Rebekka oder Caroline, die wissen Bescheid.«
»Und was wollte er?«
»Sie vom ›Weg des Verderbens wegholen, aus den Klauen des Satans befreien‹.« Michaela Schneitter hatte ihre Stimme verstellt, amte den Tonfall Robert Banglers verblüffend realitätsnah nach. »Wenn ihre Schwester schon nicht mehr zu retten war, sollte wenigstens Rebekka dem Bösen entrissen werden.«
»Er äußerte keine konkreten Drohungen?«
Seine Gesprächspartnerin stieß ein schrilles Lachen aus. »Sie sind gut. Der Typ war außer sich, als Rebekka nicht nachgab. Er schrie und tobte, verlor völlig die Kontrolle, bis wir ihr zu Hilfe eilten. Hier, in diesem Zimmer«, sie zeigte auf den Stuhl neben Braig. »Rebekka saß am Tisch, die wütende Bestie hinter ihr, als wir das Schreien hörten. Der Kerl hatte ihr die Hände um den Hals gelegt, ich sehe ihn noch genau vor mir, seinen hasserfüllten Gesichtsausdruck. Wer weiß, was damals passiert wäre, wenn wir nicht …«
»Wann war das?« Braig fiel ihr mitten ins Wort, starrte sie aufmerksam an.
»Ich weiß nicht mehr genau. Vor vier, fünf Wochen etwa.«
»Er hatte die Hände um ihren Hals gelegt?«
»Fragen Sie Rebekka. Die Abdrücke seiner Finger waren deutlich zu erkennen.«
»Haben Sie Anzeige erstattet?«
»Anzeige? Sie sind gut. Das würde Christina nie erlauben. Sie will die Sache nicht an die Öffentlichkeit bringen, jedes unnötige Aufsehen vermeiden. Auch wenn der Alte sie für die Hauptverantwortliche hält und Rebekka nur aus ihrem Einflussbereich entfernen will, würde Christina es nie zulassen, gegen die zwei verrückten Alten vorzugehen. Ich glaube, sie sieht sie irgendwie selbst als Opfer. Opfer dieses beknackten Vereins. ›Immerhin haben sie fast zwei Jahrzehnte lang die Elternrolle für uns übernommen‹, sagt sie immer.« Sie stockte, schaute Braig betroffen an. Ohne es zu merken, hatte sie die ganze Zeit immer noch im Präsens von ihrer Mitbewohnerin gesprochen, als
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