Schwanengesang – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Gervase-Fen-Serie (German Edition)
untergebracht, Mr. Stapleton?«
»In der Clarendon Street. Ganz in der Nähe des Opernhauses. Judith wohnt im selben Gebäude.«
»Ach so. Miss Haynes, haben Sie gesehen oder gehört, wie Mr. Stapleton nach Hause kam?«
»Nein.« Judith wurde rot, so als bezichtige man sie irgendeiner Unschicklichkeit. »Zu der Zeit muss ich schon im Bett gelegen haben.«
»Machte Shorthouse auf Sie einen lebensmüden Eindruck, Stapleton?« Fen sprach wie zu sich selbst; er war gerade damit beschäftigt, sich mit der Glut der ersten eine weitere Zigarette anzuzünden.
»Nein, ich denke nicht.« Stapleton zog eine vielsagende Grimasse. »Nachdem, was ich gehört habe, war er auch nicht der Typ Mensch, der sich umbringt.« Er zögerte und sprach dann weiter: »Das einzig Merkwürdige, was mir an ihm auffiel, war, dass er große Schwierigkeiten hatte, sich wach zu halten. Ich glaube, dass er zuviel getrunken hatte.«
Mudge zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts; und tatsächlich, dachte Adam bei sich, gab es auch nicht viel zu sagen. Stapleton könnte die Wahrheit erzählen, und dann wiederum könnte er vorsätzlich lügen, um die Tatsache zu verschleiern, dass er selbst während seines Besuches bei Shorthouse den Gin vergiftet hatte. Es schien unmöglich, das zu beurteilen. Eine Sache war immerhin klar geworden: Um einen kräftigen Mann zu hängen, muss man ihn zunächst seiner Widerstandskraft berauben, und das konnte man erreichen, indem man ihn entweder fesselte oder ihm eine Dosis Nembutal verabreichte. Aber warum – und dafür sprachen die Tatsachen – hätte man beides tun sollen? Ganz offensichtlich war das eine oder das andere überflüssig gewesen.
»Es muss Selbstmord gewesen sein, wissen Sie«, warf Elizabeth ein. »Mord – also nein, das halte ich für schlicht unmöglich. Oder etwa doch nicht?« Sie legte ihre Stirn in Falten. »Also wirklich«, sagte sie, »es ist, als seien die Gesetze der Schwerkraft aufgehoben …«
Darauf fiel Mudge anscheinend keine Erwiderung ein. Er ging abermals zum Angriff über.
»Und was haben Sie früher am Abend gemacht?«, fragte er Stapleton.
Stapleton hob sein Glas und nahm einen Schluck, bevor er antwortete. Es war durchaus denkbar, dass er sich Zeit zum Nachdenken verschaffen wollte. »Gegen neun Uhr«, sagte er, »verließ ich meine Bude in der Clarendon Street, wo ich nach dem Abendessen noch ein wenig gelesen hatte, und ging auf einen Drink ins ›Gloucester‹ hinüber. Dort habe ich mich mit einigen Leuten aus dem Ensemble unterhalten, bis die Bar zumachte. Dann habe ich einen Spaziergang gemacht und bin schließlich um elf zum Opernhaus zurückgegangen, um mich mit Shorthouse zu treffen.«
»Einen Spaziergang«, wiederholte Mudge entmutigt. »Allein, nehme ich an?«
»Allein. Der Abend war gar nicht mal so übel. Man konnte sogar eine kleine Ecke vom Mond erkennen.«
»Nun gut, Sir. Und befand sich in ihrem Zimmer jemand, der bezeugen könnte, zu welcher Uhrzeit Sie schließlich nach Hause kamen?«
»Das bezweifle ich. Ich hatte mit meiner Zimmerwirtin vereinbart, dass ich, da ich wahrscheinlich erst spät nach Hause käme, hinter mir abschließen würde. Vermutlich war sie also schon zu Bett gegangen. Aber vielleicht hat mich jemand gehört. Um die Wahrheit zu sagen, habe ich, nachdem ich bei Shorthouse war, noch einen Spaziergang gemacht.«
» Noch einen Spaziergang?« Mudge starrte ihn an, offenbar bestürzt über diesen Mangel an Abwechslung.
»Noch einen Spaziergang«, bestätigte Stapleton düster. »Diesmal aber nur einen ganz kurzen. Ich muss so gegen zwanzig vor zwölf zu Hause gewesen sein.«
Mudge holte tief Luft. Er wollte gerade zum Sprechen ansetzen, als Fen ihm zuvorkam.
»Und Sie haben«, fragte Fen freundlich, »mit Mr. Shorthouse kein Wort über Miss Haynes geredet?«
Kapitel 9
Das Mädchen drehte sich schnell um, so dass ihr helles Haar im Licht der Lampen kurz aufschimmerte, und sah ihn an.
»Wozu hätten sie sich über mich unterhalten sollen?«, fragte sie, und sie ärgerte sich über das leichte Zittern in ihrer Stimme.
Fen betrachtete sie nachdenklich. »Die Angelegenheit mag ziemlich heikel sein«, sagte er, »aber in Anbetracht der Lage wird es früher oder später doch herauskommen … Soviel ich verstanden habe, fühlte sich Shorthouse … nun ja, sagen wir mal, er fühlte sich zu Ihnen hingezogen.«
Judith wurde ziemlich bleich. »Ich glaube«, stammelte sie, »man könnte … Nein, ich …«
Sie hielt beschämt und
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