Schwanengesang – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Gervase-Fen-Serie (German Edition)
Ehefrau abzuwenden – sang gerade Walthers Probelied. Die erste Oboe war immer noch nicht erschienen, deswegen übernahm Peacock vom Dirigentenpult aus ihren Part, indem er zu gegebener Zeit mit Grabesstimme einen düsteren Singsang anstimmte, der jedermann zutiefst irritierte. Trotzdem war die Arbeitsatmosphäre von der guten Laune darüber bestimmt, dass die Sache endlich in Gang gekommen war – und darüber hinaus war das Ergebnis überzeugender, als es bei jeder der vorangegangenen Proben gewesen war. Die Darsteller sangen nicht nur, sie spielten auch. Alle Bewegungen waren fließend, und aus den einzelnen Szenen kristallisierte sich langsam, aber unaufhaltsam ein Endergebnis heraus. Joan fühlte, dass durch den Tod von Edwin Shorthouse eine schwere Last von der Produktion abgefallen war, und weil sie eine treue Vertreterin ihres Berufsstandes war, machte diese Erkenntnis sie glücklich.
Sie machte es sich neben Judith Haynes bequem.
»Judith«, sagte sie leise, »es tut mir leid, aber ich musste das Versprechen, das ich Ihnen damals gegeben habe, brechen. Ich habe Professor Fen erzählt, was sich neulich nachts hier abgespielt hat.«
Das Mädchen drehte sich zu ihr um, und Joan fragte sich, ob es an dem künstlichen Licht lag oder an irgendeinem unvermuteten privaten Problem, dass ihre hübschen, jugendlichen Züge plötzlich so abgezehrt wirkten.
»Ist schon in Ordnung«, sagte sie. »Ich haben gerade eben Mrs. Langley davon berichtet. Jetzt kann Boris ruhig davon erfahren.«
Sofort biss sie sich auf die Lippe und warf Fen einen kurzen Blick zu. Ihre Ängstlichkeit erweckte Elizabeths Mitleid, und so beeilte diese sich, das kurze, peinliche Schweigen zu brechen, das eingetreten war.
»Edwin«, verkündete sie, »war einfach abscheulich.«
Irgendetwas in ihrer Stimme erregte Fens Aufmerksamkeit. Neugierig sah er sie durch halb geschlossene Lider an.
»Seit wann kannten Sie Edwin Shorthouse?«, fragte er.
»Ungefähr so lange, wie ich Adam kenne … Wir hatten eine Dreiecksbeziehung«, erklärte Elizabeth. Dann fügte sie, vielleicht, weil sie den Eindruck hatte, diese knappe geometrische Beschreibung könne unanständig sein, hastig hinzu: »Wissen Sie, Edwin wollte mich als seine Geliebte … Er war gar nicht erfreut darüber, dass Adam mich heiratete, und für eine ganze Weile hat er sich grässlich benommen.«
»Adam konnte ihn also nicht ausstehen?«
»Eher andersherum: Er hasste Adam .«
»›Hassen‹ ist ein starkes Wort«, sagte Fen.
»In diesem Fall ist es das einzig zutreffende.«
»Waren die zwei immer noch verfeindet, als Shorthouse starb?«
»Nein«, sagte Elizabeth. »Ende letzten Jahres hat er sich bei Adam entschuldigt, als sie beide für den Don Pasquale engagiert waren.« Sie berichtete Fen von dem Zwischenfall. »Adam hielt die Entschuldigung für nicht aufrichtig, aber danach hatten wir keine Unannehmlichkeiten mehr.«
Diese Information schien Fen unerklärlicherweise zu enttäuschen. Er sah wieder zur Bühne. Adam hatte sein Probelied beendet, und Beckmesser war dabei, es nach allen Regeln der Kunst zu zerpflücken. Mit Ausnahme von Sachs schüttelten alle Meister die Köpfe um auszudrücken, wie sehr sie Walthers jugendlichen Übermut missbilligten. Aus den Kulissen spähte eine Putzfrau mit Wischmopp und Eimer interessiert herein, bis sie von jemandem verscheucht wurde, der hinter ihr stand und nicht zu sehen war. Judith sagte zu Joan:
»Ich mache mir schreckliche Sorgen um Boris.«
»Sorgen? Wieso?«
»Ich bin mir sicher, dass er krank ist, aber er weigert sich, zum Arzt zu gehen.«
»Er leidet an einer Hautkrankheit, nicht wahr?«
»Ja. Er hatte das schon einmal, aber so schlimm wie jetzt war es noch nie.«
» Warum weigert er sich, zum Arzt zu gehen?«
»Wegen der Oper. Es ist seine erste Rolle – er spricht nur zwei Worte, ich weiß ja, aber immerhin ist es seine erste Rolle. Er hat Angst davor, Bettruhe aufgebrummt zu bekommen. Und er arbeitet so hart an seiner Karriere – wissen Sie, er schminkt sich jeden Tag eine volle Stunde lang …«
»Meinen Sie, dass er, wenn ich mit ihm rede …«
»Nein … Das sollte jetzt nicht unhöflich klingen, aber wenn selbst ich ihn nicht überzeugen kann …«
»Ja. Das sehe ich ein.« Plötzlich hatte Joan einen Entschluss gefasst. »Kommen Sie, wir wollen uns unter vier Augen unterhalten.«
Sie gingen in den Proberaum. Giacomo Puccini spähte von der Wand auf sie hinunter.
»Judith«, fragte Joan ohne Umschweife,
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