Schwanengesang (German Edition)
Marcs roten Spielstein vom Brett.
Marc lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. »Super«, sagte er. »Das habt ihr ja mal wieder super hingekriegt. Aber ihr bekommt alles zurück, das schwöre ich!«
In diesem Moment läutete das Telefon.
Marc stand vom Esstisch auf und nahm den Hörer von der Station.
»Hagen.«
»Hallo, Marc, Gabriel hier. Wir müssen uns treffen.«
»Hast du Akteneinsicht bekommen? Was hast du rausgefunden?«
»Nicht am Telefon. Hast du heute Abend Zeit?«
Marc schaute auf die Uhr. Es war erst kurz nach vier. Nach seinem Besuch bei Rottmann war Marc nur noch kurz in der Kanzlei gewesen und dann nach Hause gefahren. Er konnte sich derzeit ohnehin nicht auf seine Arbeit konzentrieren und hatte gedacht, dass es nicht schaden könne, mehr Zeit mit seiner Familie zu verbringen. Also hatten sie das Mensch-ärger-dich-nicht-Spiel vom Schrank geholt, abgestaubt und gemeinsam eine Partie gespielt.
»Heute Abend geht in Ordnung«, sagte Marc. »Wann und wo?«
»Acht Uhr bei mir.« Dann war die Leitung tot.
Noch immer etwas verwundert, dass Gabriel so kurz angebunden war, kehrte Marc an den Esstisch zurück. Sie spielten die Partie zu Ende, danach ging jeder seiner Wege.
In seinem Arbeitszimmer fuhr Marc den PC hoch und loggte sich im World Wide Web ein. Er wollte endlich wissen, was es mit diesem geheimnisvollen Verein auf sich hatte, dem Johanna Reichert die Hälfte ihres Vermögens vererbt hatte. Marc holte seinen Notizblock hervor und gab Aktion T4 in die Suchmaschine ein. Wider Erwarten erhielt er zahlreiche und eindeutige Treffer. Marc brauchte nicht lange, bis er sich einen ersten Überblick verschafft hatte: Hinter der Bezeichnung Aktion T4 verbarg sich die systematische Ermordung von kranken und behinderten Menschen durch die Nazis. T4 stand für Tiergartenstraße 4 in Berlin, wo die Bürozentrale beherbergt gewesen war. Die Aktion begann 1939 und wurde 1941 nach kirchlichen Protesten offiziell eingestellt. Dennoch gingen die schrecklichen Tötungen bis 1945 weiter. Dieser ›wilden Euthanasie‹ fielen noch einmal Tausende Menschen zum Opfer. Nach Schätzungen waren im Dritten Reich mindestens zweihundertfünfzigtausend psychisch Kranke und geistig Behinderte ermordet worden.
Marc runzelte die Stirn. Hunderttausende Tote und er hatte den Namen Aktion T4 noch nie in seinem Leben gehört. Woraus sich gleich die nächste Frage ergab: Was hatte Johanna Reichert damit zu tun?
Marc gab als Suchworte Verein wider das Vergessen der Aktion T4 ein und gelangte auf die Homepage des Vereins, der seinen Sitz in Hamm hatte und dessen Vorsitzender ein Klaus Lichtenfeld war.
Marc fand eine Telefonnummer, nahm den Hörer zur Hand und tippte die Ziffern ein. Am anderen Ende meldete sich eine Frau, die sich als Lichtenfelds Sekretärin vorstellte. Marc trug sein Anliegen vor und nach einer kurzen Rücksprache mit ihrem Chef teilte die Sekretärin ihm mit, er könne gleich am nächsten Morgen vorbeikommen.
19
Gabriels Apartment lag in einem älteren Stadtteil Bielefelds zwischen Innenstadt und Uni, der hauptsächlich von Studenten bevölkert wurde. Die Mieten waren relativ günstig, dafür gab es kaum Garagen, und so waren die Bewohner gezwungen, ihre fahrbaren Untersätze auf der Straße abzustellen.
Marc schellte an der Tür des über hundert Jahre alten Hauses und betrat einen muffigen Flur ohne Fahrstuhl. Gabriels Wohnung lag im obersten Stock, weshalb sie deutlich günstiger war als die restlichen im Haus.
Als Marc in der vierten Etage ankam, wartete Gabriel in der Tür auf ihn. Er wischte sich Tränen aus den Augen.
»Was ist passiert?«, fragte Marc.
»Nichts. Ich habe mir nur mal wieder Schwanengesang angeschaut. Am Ende muss ich immer weinen. Du weißt schon, wenn der durchgehende Piepton des EEG anzeigt, dass Bobby tot ist, und J. R. ruft: ›Nein, tu mir das nicht an, Bobby, lass mich nicht alleine!‹« Er zog lautstark die Nase hoch. »Aber jetzt komm erst mal rein.«
Gabriel lotste seinen Freund in sein Wohnzimmer, das allerdings mehr einer Müllhalde glich. Auf dem Boden lagen Kleidungsstücke, DVDs, CDs, Schallplatten, Zeitungen, Bücher, leere Pizzakartons und Flaschen wild durcheinander, eine Bierkiste diente unter dem Schreibtisch als Fußstütze. Marc nahm die DVDs näher in Augenschein. Außer den unvermeidlichen Dallas -Scheiben konnte er auch mehrere Barely-Legal -Ausgaben entdecken.
»Was soll ich machen?«, las Gabriel Marcs Gedanken. »Meine Frau ist weg und eine
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