Schwanengesang (German Edition)
Verein strikt gegen jede Form von Sterbehilfe ist, gleich aus welchem Grund.«
Marc atmete schwer aus. »Ja, das kann ich nachvollziehen. Auch wenn ich bestreite, dass man das, was ich getan habe, mit den Taten der Nazis vergleichen kann.«
»Vielleicht«, räumte Lichtenfeld ein. »Also, was kann ich für Sie tun?«
Bevor Marc antworten konnte, wurde die Tür aufgerissen und ein schlanker Mann Anfang siebzig stürmte in den Raum. »Klaus, kannst du …« Er unterbrach sich, als er sah, dass Lichtenfeld nicht allein war. »Oh, Entschuldigung, ich wusste nicht, dass du Besuch hast.«
»Das ist Herr Hagen«, stellte der Vereinsvorsitzende seinen Gast vor. »Du erinnerst dich, wir hatten gerade noch über ihn gesprochen. Herr Hagen, das ist Herbert Klein, mein Stellvertreter.«
Marc nickte ihm zu und bemerkte, dass Klein ihn jetzt mit einem gewissen Interesse betrachtete. Auf seinen Lippen erschien ein merkwürdiges Lächeln, das Marc vorher schon mehrfach bei Sektenmitgliedern beobachtet hatte. »Ist Ihnen das fünfte Gebot des Herrn nicht bekannt, Herr Hagen?«, fragte Klein mit einer Singsang-Stimme. »Du sollst nicht töten!«
Marc sagte nichts, da ihm einfach keine Erwiderung einfallen wollte. Lichtenfeld rettete die Situation, indem er auf die Uhr schaute. »Herbert, komm doch in einer Viertelstunde noch mal vorbei. Ich denke, dann sind wir hier fertig.«
»Nehmen Sie es nicht persönlich«, fuhr Lichtenfeld fort, als sie wieder zu zweit waren. »Herbert ist sehr religiös. Und er steht momentan genauso unter Strom wie wir alle. Also: Warum sind Sie hier?«
»Wie Sie sich vielleicht schon gedacht haben, geht es um Johanna Reicherts Testament«, begann Marc. »Ich weiß, dass Frau Reichert Ihrem Verein die Hälfte ihres Vermögens vermacht hat.«
»Das ist richtig. Als wir erfahren haben, auf welche Art und Weise Frau Reichert ums Leben gekommen ist, waren wir allerdings so erschüttert, dass wir sogar für kurze Zeit überlegt haben, die Erbschaft auszuschlagen. Ich sagte ja schon, dass Sterbehilfe jeder Form den Zielen unseres Vereins diametral entgegensteht.«
»Aber wie man hört, soll Ihr Anteil etwa zehn Millionen Euro betragen.«
»Das war schließlich auch der Grund, warum wir uns gegen eine Ausschlagung entschieden haben. Wir können das Geld wirklich gut gebrauchen und damit viel Sinnvolles anfangen. Abgesehen davon hat sich jetzt ja auch herausgestellt, dass es sich nicht um Sterbehilfe, sondern um Mord gehandelt hat.«
»Können Sie sich vorstellen, warum Frau Reichert gerade Ihren Verein als Erben eingesetzt hat?«
»Ja. Frau Reichert ist vor etwa fünf Jahren an mich herangetreten. Sie hat mir erzählt, sie habe kurz zuvor mehr oder weniger zufällig erfahren, dass ihr Vater im sogenannten Dritten Reich Arzt in der Privaten Kinderklinik Frohnau war, in der ab 1939 behinderte Neugeborene systematisch umgebracht worden sind. Das hat sie schwer getroffen, weil sie ihren Vater immer sehr verehrt hat. Als sie von unserer Arbeit gehört hat, sah sie das als Gelegenheit, die Taten ihres Vaters irgendwie wiedergutzumachen. Sie müssen wissen, dass fast alle Mitglieder unseres Vereins Familienange hörige durch die Aktion T4 verloren haben. Wir versuchen nun dafür zu sorgen, dass die Opfer niemals vergessen werden.«
»Was ist aus Frau Reicherts Vater nach dem Krieg geworden?«, wollte Marc wissen.
»Nichts. Er ist – wie die meisten Ärzte, die an der Kinder-Euthanasie beteiligt waren – nie angeklagt worden. Er hat bis in die späten Siebzigerjahre eine Kinderarztpraxis in Berlin betrieben und hat mit niemandem über seine Verbrechen gesprochen. Mit seiner Familie schon gar nicht.«
»Und als Frau Reichert schließlich doch davon erfahren hat, begann sie, Ihren Verein finanziell zu unterstützen.«
»Richtig. Sie hat viel gespendet, sogar sehr viel. Ich möchte sogar behaupten, ohne Frau Reichert würde es unseren Verein heute nicht mehr geben. Von den Mitgliedsbeiträgen allein können wir nicht existieren. Sie hat mir auch zugesagt, unseren Verein in ihrem Testament großzügig zu bedenken. Und Frau Reichert hat auch sonst viel für uns getan. Nehmen Sie zum Beispiel meinen Stellvertreter Herbert Klein. Herberts Bruder wurde 1940 in der Kinderklinik Frohnau mit dem Down-Syndrom geboren und ist sofort nach der Geburt getötet worden. Ob Frau Reicherts Vater an diesem Mord aktiv beteiligt war, wissen wir nicht, aber als ich Frau Reichert davon erzählt habe, war sie sofort bereit,
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