Schwanengesang (German Edition)
Teil gekümmert, während er für den medizinischen Bereich zuständig war.« Nolte hielt erschrocken inne, um sich dann schnell zu korrigieren. »Zuständig ist natürlich. Wir wollen ja nicht gleich das Schlimmste annehmen.«
26
Nach dem Abstecher bei Heinol fuhr Marc zum Bielefelder Hauptbahnhof, in dessen Umgebung sich unzählige türkische Gaststätten angesiedelt hatten. Er entschied sich für ein Restaurant, das mit anatolischen Gerichten vom Holzkohlegrill warb, und setzte sich an einen Fensterplatz.
Beim Kellner bestellte er einen Adana-Teller und eine Fanta. Dann hielt er Ausschau nach etwas Lesbarem, um die Wartezeit zu überbrücken, wurde aber außer einigen Exemplaren der Hürriyet und einem Öger -Reisekatalog Winter 2002/2003 nicht fündig. Da ihn auch die türkischen Musikvideos, die von einem an der Wand angebrachten Monitor auf ihn herabplärrten, nicht sonderlich interessierten, blieb ihm nichts anderes übrig, als das Treiben auf der Straße durch die Fensterfront zu beobachten.
Doch dann erinnerte Marc sich an die Broschüre, die er bei Heinol eingesteckt hatte. Er zog sie aus seiner Jackentasche und klappte das schmale Hochglanz-Werbeheftchen für Ginsomed auf. Gleich auf der zweiten Seite entdeckte Marc die Bestell- und Versandbedingungen. Er blies die Wangen auf, als er die gepfefferten Preise las. Nein, verschenkt wurde das Mittel mit Sicherheit nicht. Immerhin akzeptierte die Heinol GmbH alle gängigen Kreditkarten. Marc blätterte langsam weiter. Nolte hatte zwar gesagt, er sehe Ginsomed nicht als Wundermittel an, jedoch wurde es als ein solches vermarktet. Angeblich hatten zahlreiche Studien eindeutig belegt, dass in Gegenden Chinas, in denen besonders viele Menschen Ginsengwurzeln aßen, Krebserkrankungen fast unbekannt waren. Daraus hatten Nolte und Heinen den Schluss gezogen, die niedrige Krebsrate müsse etwas mit den Ernährungsgewohnheiten der Menschen zu tun haben, und daraufhin ihr Heilmittel entwickelt.
Auf den folgenden Seiten fanden sich hauptsächlich Berichte von Menschen, die angeblich durch Ginsomed von Krebs und anderen schweren Krankheiten geheilt worden waren. Eine Mutter erzählte von der Leukämie ihres dreijährigen Sohnes, der nun dank Ginsomed vollkommen genesen sei und wieder unbeschwert mit seinen Freunden spielen konnte. Unter der Überschrift: Unser Ziel: Glückliche Familien war ein Foto abgedruckt, das ein lachendes Mädchen auf einer Schaukel zeigte, das mit wehenden Haaren auf die Kamera zuschwebte. Darunter stand: Auch für unsere Jüngsten ist Ginsomed bestens verträglich!
Marc wollte gerade weiterblättern, als er stutzte. Er kniff die Augen zusammen und inspizierte das Bild näher: Das Mädchen auf der Schaukel war Lizzy! Er fixierte alle Details des Bildes, bis es keinen Zweifel mehr gab: Das Mädchen war Lizzy. Den Anorak, den sie trug, hatte er Lizzy vor etwa einem Jahr selbst geschenkt.
Wie von der Tarantel gestochen fuhr Marc von seinem Platz hoch und rammte dabei der Bedienung mit der Schulter seinen Adana-Teller aus der Hand. Die türkische Spezialität landete samt der gelben Limonade mit einem lauten Knall auf dem Boden.
Ohne auf die Protestrufe zu achten, schmiss Marc einen Zehneuroschein auf den Resopaltisch und rannte fluchtartig aus dem Restaurant.
Welchen Weg er nach Hause genommen hatte, konnte er hinterher nicht mehr sagen. Er kam erst wieder zu sich, als er in Melanies Arbeitszimmer stürmte und die Broschüre vor ihr auf den Schreibtisch knallte.
»Wärest du bitte so freundlich, mir das zu erklären?«, zischte er.
Melanie musterte Marc erschrocken, sagte aber nichts. Sie nahm das Heft zur Hand und blätterte es durch. Als sie Lizzy erkannte, wich sämtliche Farbe aus ihrem Gesicht.
»Mein Gott«, stammelte sie.
»Ja, mein Gott«, wiederholte Marc scharf. »Und jetzt erzähl mir bitte nicht, du hättest davon nichts gewusst.«
Eine Minute lang war Melanie sprachlos. Dann flüsterte sie: »Ich habe davon nichts gewusst, wirklich.«
»Und wie kommt Heinen dann in den Besitz dieses Fotos?«
Melanie ließ sich wieder Zeit, bevor sie antwortete. »Als ich vor Monaten mit Lizzy in Heinens Praxis war, ist mir aufgefallen, dass dort sehr viele Fotos von Kindern an der Wand hingen, die teilweise professionell aussahen. Ich habe Heinen darauf angesprochen und er hat mir gesagt, die Aufnahmen seien alle von ihm, er sei Hobbyfotograf. Er hat mich gefragt, ob er nach dem Termin auch ein Foto von Lizzy machen könne. Ich habe mir
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