Schwanengrab
ging zu ihm und gab ihm einen Kuss aufdie Wange. Er nahm mich in den Arm und drückte mich. Das hatte er zum letzten Mal vor einer Ewigkeit getan. Dann ließ er mich los, drehte sich um und eilte in sein Arbeitszimmer.
Ich ging ebenfalls in mein Zimmer. Es war spät und ich war müde. Trotzdem wollte ich wissen, ob Sarah mir gemailt hatte. Aber ich wurde enttäuscht, es gab keine neuen Nachrichten. Ach ja! Morgen stieg die Party bei Josy. Wahrscheinlich waren alle mit den Vorbereitungen beschäftigt. Ich öffnete die Homepage der Schule und klickte mich auf die Theaterseite, um mir noch einmal die Handlung durchzulesen. Erst jetzt wurde mir richtig bewusst, dass sich Odette, der weiße Schwan, und Odile, der schwarze Schwan, so ähnlich sahen. Wie Veronika und ich. Veronika war tot, genau wie Odette, deren Rolle sie gespielt hatte. Was hatte Neela noch geträumt von zwei Schwänen? Von Veronika, die nun in ihrem Schwanengrab lag? Ich wollte nicht darüber nachdenken. Verstört schaltete ich meinen Laptop aus.
Die ganze Sache verwirrte mich total. Schwanensee war doch nur ein x-beliebiges Stück. Außerdem hatte die Theater-AG lange vor meinem Erscheinen mit den Proben begonnen. Was sollte es also mit mir zu tun haben? Natürlich nichts. »Träume sind Schäume«, hatte meine Granny immer gesagt. Seifenblasen! Puff, und weg waren sie! Das Ganze war ein blöder Zufall.
Ich ging ins Bad, putzte meine Zähne und betrachtete meine Zahnspange. Nur noch wenige Tage, dann kam dieses hässliche Ding hoffentlich endlich aus meinemMund. Müde ging ich zu Bett, löschte das Licht und schlief sofort ein.
Klonk, klonk, klonk.
Es war stockdunkel. Nicht einmal die Hand vor Augen konnte ich sehen. Doch dieses Geräusch hatte ich schon einmal gehört.
Klonk, klonk, klonk.
Direkt über mir. Es war das Geräusch von Erdbrocken, wenn sie auf Holz fielen.
Klonk, klonk, klonk.
Ich wollte aufstehen, aber es ging nicht. Alles war so eng. Wo war ich denn und wo war der Schalter meiner Nachttischlampe? Ich suchte mit meiner Hand rechts von mir und spürte eine glatte Wand. Auch auf der linken Seite. Hektisch tastete ich nach oben. Hier auch!
Oh nein, bitte nicht!
Klonk, klonk, klonk.
Ich schrie, so laut ich konnte, aber das Geräusch der Erde war lauter, erstickte meinen Schrei.
Hilfe! Bitte!
Mein Herz schlug wie wild gegen meine Rippen. Ich wollte hier raus – sofort! Raus aus diesem Sarg, aus dem Grab, das man gerade zuschüttete. Panisch hämmerte ich mit den Fäusten gegen das harte, unnachgiebige Holz. Der Schrei blieb in meiner Kehle stecken. Die Luft wurde knapp. Alles drehte sich um mich.
Ich bin nicht tot! Nicht tot!
Dann plötzlich hörte ich ein anderes Geräusch. Stimmen! JA ! Ich schrie mit meiner ganzen verbliebenen Kraft. Diesmal konnte ich mich selbst hören – ganz laut und deutlich. Ein Kratzen über mir, ein Poltern. Ich spürte, wie sich der Sarg bewegte. Wurde ich nach oben gezogen? Bitte, bitte helft mir! Licht blendete mich, als der Deckel über mir aufgerissen wurde. Christoph beugte sich über die Sargwand. Er hielt mir seine Hand entgegen, um mich nach oben zu ziehen. Ich streckte meinen Arm nach ihm aus. Aber es war nicht Christophs Hand, die mich packte. Es war eine eisige, kalte Hand. Meine Mutter stand über mir. »Komm, es ist Zeit!«, sagte sie und zog mich zu sich. Ich hörte Christophs Schrei. Spürte seine Finger, wie sie mich festhalten wollten, aber er war nicht schnell genug. Meine Mutter zog mich in die sternenlose Nacht und dann verwandelten wir uns in zwei Schwäne.
Schweißgebadet und mit rasendem Herzschlag wachte ich auf, blickte mich um. Hier war mein Zimmer. Ich lag in meinem Bett. Die Straßenlaterne schimmerte durch die Vorhänge. Niemand war da. Kein Christoph und auch nicht meine Mutter. Schnell atmend setzte ich mich auf. Ich fuhr mir mit der Hand durch meine Haare. Sie waren nass geschwitzt. Was für ein schrecklicher Traum. Warum träumte ich in letzter Zeit so grauenhafte Sachen? Ich ging in die Küche und holte mir ein Glas Wasser, aber meine Hände zitterten so sehr, dass ich es nach dem ersten Schluck abstellen musste. Noch immer raste mein Herz. Langsam ging ich in mein Zimmer zurück, holte mir ein sauberes Leintuch und eine Wolldecke aus meinem Schrank, dann zog ich mir ein frisches T-Shirt über.Unablässig drängten sich die Bilder des Traumes in mein Bewusstsein. Um mich abzulenken, schaltete ich leise Musik an. Meine Lieblings-CD.
Am nächsten Tag erwachte ich
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