Schwanengrab
viel zu spät. Es war schon fast halb zehn, als ich auf den Wecker schaute. Himmel noch mal! Warum musste ich ausgerechnet heute verschlafen? In einer halben Stunde kam Christoph, um mich abzuholen. Im Bad bestätigte sich meine Befürchtung: Meine Haare sahen genauso aus, wie ich mich fühlte. Ich versuchte, mit dem Glätteisen wenigstens das größte Übel zu beseitigen. Dann spulte ich hektisch mein Schminkritual ab. Fertig!
»Hey Sam!«, hörte ich meinen Dad rufen. Es roch nach Kaffee. »Ich hab Croissants vom Bäcker geholt. Willst du?«
Ich lief in die Küche. Er saß vollkommen gechillt, mit einer Zeitung in der Hand, am Küchentisch.
Im Vorbeigehen schnappte ich mir ein Hörnchen und nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Tasse. Bah! Warum trank er seinen Kaffee immer ohne Zucker?
»Warum hast du mich nicht geweckt?«
»Sollte ich?«
Oh Mann! »Muss gleich los!«, mampfte ich und schenkte mir ein Glas Orangensaft ein.
»Ach ja, dein Christoph kommt ja gleich«, erwiderte mein Dad und lachte, als ich ihn strafend ansah.
»Er ist nicht ...«, versuchte ich zu widersprechen.
»... dein Christoph, klar!«, unterbrach er mich.
Ich verdrehte die Augen und eilte in mein Zimmer. Die Sonne strahlte mich an, als ich die Vorhänge aufzog. Endlich schönes Wetter! Der Herbst zeigte sich von seiner besten Seite und gab alles, was er zu bieten hatte. Ich wählte eine weiße Legging, dazu ein Shirtkleid, das mir bis zu den Oberschenkeln reichte, und einen breiten Gürtel. Dann schlang ich mir einen luftigen Schal um den Hals, der farblich perfekt passte, und nahm mir eine Jacke aus dem Schrank für die Fahrt mit der Vespa. Als ich mich im Spiegel begutachtete, läutete es. Zehn Uhr, pünktlich auf die Minute!
Kapitel 21
»Hallo! Schon fertig?« Christoph lächelte mich an, als ich die Tür aufriss, um ihn zu begrüßen.
Ich nickte. »Hey!« Ich freute mich wirklich riesig, ihn zu sehen.
»Du siehst toll aus!«, meinte er.
Natürlich wurde ich wieder einmal rot. Wann würde das jemals aufhören? Ich lächelte, ohne dabei meine Zahnspange zu zeigen.
Irgendwas war anders an ihm. Es dauerte eine Weile, bis ich darauf kam. Unter seiner offenen Jacke zeigte sich heute kein Pullunder, sondern ein weißes Hemd, das er sich in seine helle Jeans gesteckt hatte. Dazu ein lässiger Gürtel.
»Du auch!«, sagte ich. »Anders als sonst!«
Er grinste und reichte mir den zweiten Helm, den er für mich mitgebracht hatte.
Ich schnappte mir meine Tasche, dann fuhren wir los. Meine Laune war auf dem Höchststand. Christoph parkte seine Vespa direkt im Zentrum. Dann machten wir uns auf den Weg durch die Fußgängerzone.
»Ich war übrigens gestern Abend noch bei Neela, nachdem du mir den Zettel an mein Fahrrad gehängt hast«, erzählte ich.
»Welchen Zettel?«, fragte Christoph verwirrt.
»Na, auf dem stand, dass Neela mehr weiß!«
»Ich hab dir keinen Zettel an dein Fahrrad gehängt.«
»Nicht?« Ich blieb stehen.
»Was war das für ein Wisch?«, fragte er. Es klang besorgt.
»Hm! Ich weiß nicht. Irgendjemand schreibt mir dauernd Briefe. Nicht gerade schöne! Wobei, der gestern war anders. Ich dachte eigentlich, er wäre von dir ...« Mit wem hatte ich denn sonst über Neela gesprochen? Doch nur mit Christoph, oder? Plötzlich fiel mir Mike ein. In den letzten beiden Tagen hatte ich keinen Kontakt mit ihm gehabt. Tatsächlich hatte ich gar nicht mehr an ihn gedacht, musste ich zugeben. Aber in unserem letzten Chat war es auch um Neela gegangen. War die Nachricht an meinem Rad von Mike? Aber er hatte mir doch davon abgeraten, Neela zu treffen. Warum sollte er mir dann plötzlich diesen Hinweis geben? Vielleicht konnte ich ihn heute Abend danach fragen, überlegte ich.
»Sam?« Christophs Stimme riss mich aus meinen Gedanken. »Was für Briefe?«, fragte er erneut.
»Ach, blödes Zeug. Von wegen, ich soll wieder von der Schule gehen und so, mit Buchstaben aus Zeitungen.« Ich zuckte mit den Schultern.
»Du bekommst Drohbriefe?«, fragte er entsetzt.
»Na ja. Richtig gedroht hat man mir ja nicht. Eher, dass ich gehen soll, bevor es zu spät ist.«
Er fasste meinen Arm und hielt mich fest. »Wann hast du so einen Brief bekommen, Sam?« Sein Blick war ernst.
»Autsch! Du tust mir weh!«, sagte ich empört.
Er zog sofort seine Hand zurück. »Entschuldige, das wollte ich nicht. Aber bitte, Sam, seit wann bekommst du diese Briefe?«
»Seit ich hier zur Schule gehe. Jemand hat mir einen Zettel an mein Fahrrad
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