Schwanengrab
dir unbedingt einen super Song vorspielen. Den finde ich echt genial!«
Auf Englisch schrieb ich schnell: »Listen to the music and be quiet.«
Ich klickte über meinen Mediaplayer irgendein Lied an – egal was. Volksmusik ertönte. Oje! Das war der Weihnachtsgag für meine Grandma letztes Jahr. Ausgerechnet!
Dann stand ich auf und schlich geduckt, so leise ich nur konnte, zum Fenster. Wer auch immer davorstand, er musste mein Herz pochen hören, so laut dröhnte es in meinen Ohren. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und schob mit zitternden Fingern den Vorhang ein paar Zentimeter zur Seite. Vor Schreck wäre ich fast in Ohnmacht gefallen, als direkt neben meinem Fenster plötzlich ein Schatten weghuschte. In Panik schrie ich auf und duckte mich zur Seite. Bis ich mich wieder einigermaßen gefasst hatte, war die Gestalt bereits verschwunden. Ich hatte nichts, aber auch gar nichts erkennen können. Im ersten Moment dachte ich, es wäre Christoph. Aber was hätte er mitten in der Nacht vor meinem Fenster zu suchen gehabt? Und wenn er es gewesenwäre, hätte er sich doch zu erkennen gegeben, oder etwa nicht? Christoph bewegte sich genauso, dachte ich verwirrt. Auch die Größe könnte hinkommen.
Ich zögerte einen Moment, dann öffnete ich vorsichtig mein Fenster und lugte hinaus. Es war nur ein Hauch, nur eine Sekunde lang, bis der Duft wieder verflog: Ferien mit einem Schuss Zitrone!
Entsetzt knallte ich das Fenster zu und verriegelte es. Christoph! Warum schlich er hier herum?
»SAM? SAM!«, schrie es aus meinem Laptop.
Ich eilte zum Bildschirm. Sarah war kreidebleich.
»I’m okay!«, sagte ich matt.
Das war schlichtweg gelogen. Ich zitterte am ganzen Körper.
»Was ist denn bei dir los?«
»Ich muss unbedingt etwas nachsehen!«
Meine Stimme drohte zu versagen. Ich schluckte und klickte die nervtötende Musik aus, dann nahm ich mein Handy und drückte die Wahlwiederholungstaste. Christophs Stimme ertönte mit einer Ansage, dass er gerade nicht zu erreichen war, man ihm aber gerne eine Nachricht hinterlassen könnte. Was hätte ich sagen sollen? Was ihm einfiel, sich mitten in der Nacht vor meinem Fenster herumzutreiben? Und wenn ich mich auch diesmal irrte? Ich legte auf.
Vielleicht lag er zu Hause in seinem Bett und schlief bereits tief und fest. Hilflos vergrub ich mein Gesicht in den Händen und ließ mich auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch fallen. Das war einfach zu viel. Ich konntenicht mehr und ich musste jetzt endlich wissen, was hier los war.
»SAM!«, schrie Sarah erneut.
Als ich endlich den Kopf hob, sah sie mich besorgt an.
Bevor sie mich mit ihren Fragen löchern würde, erzählte ich ihr, was soeben geschehen war.
»Du rufst jetzt sofort die Polizei oder ich mache das für dich!«
Sarah wäre wirklich dazu imstande, den deutschen Notruf zu wählen.
»Ja, ich mache es gleich!«, stöhnte ich, nur damit sie Ruhe gab.
Was ich jetzt brauchte, war vor allem Zeit. Zeit, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Ich entschuldigte mich bei ihr und wir verabredeten uns für ein anderes Mal. Dann schaltete ich den Laptop aus und ging erneut zum Fenster. Alles war ruhig. Diesmal gab es immerhin keinen Drohbrief. War ich wirklich in Gefahr? Und welche Rolle spielte Christoph in dieser ganzen Sache? Christoph ist ein Spanner ... ein Spanner ... ein Spanner. Mikes Worte trafen mich noch stärker als zuvor. Nein! Ich drückte noch einmal die Wahlwiederholung. Wieder nur diese dämliche Mailbox. Von wegen er hatte ab jetzt sein Handy immer auf Empfang. Ein Teil in mir kochte vor Wut, ein anderer Teil schwankte zwischen Unsicherheit und Angst. Sollte ich meinen Dad anrufen? Ich wählte seine Agenturnummer. Nach dem fünften Mal ging er endlich ran.
»Sam? Es ist ein Uhr vorbei! Warum liegst du nicht im Bett?«
»Weil jemand vor meinem Fenster stand!«, sagte ich.
»Was?«, rief er ins Telefon. »Hast du schlecht geträumt?«
»Ich habe gar nicht geträumt. Ich habe mit Sarah gechattet und dann habe ich plötzlich diesen Schatten vor meinem Fenster gesehen.«
»Du hast mit Sarah gechattet? Um diese Zeit?«
»Wann sonst?«, blaffte ich ihn an. »JEMAND - WAR - VOR - MEINEM - FENSTER!«
»Das war sicher Herr Hermann mit seinem Dackel«, versuchte er mich zu beruhigen. War doch klar, dass er mir nicht glaubte.
»Herr Hermann kann bestimmt nicht innerhalb von Sekunden über die Straße rennen und hinter der nächsten Biegung verschwinden, oder traust du ihm das zu?«
»Was? Ich verstehe
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