Schwanengrab
nicht, was du damit sagen willst. Du gehst jetzt bitte wirklich ins Bett. Und mit Sarah um diese Uhrzeit chatten kannst du am Samstag und nicht, wenn du am nächsten Tag früh rausmusst. Ach ja, übrigens ... ich habe gerade meine E-Mails durchgelesen. Leider muss ich für zwei Tage überraschend weg, nach Frankfurt. Eine wichtige Präsentation. Muss dafür natürlich noch eine Menge vorbereiten, deshalb bleibe ich heute Nacht hier. Meine Sachen hole ich morgen früh und fahre dann gleich weiter. Wir sehen uns also erst wieder am Mittwoch. Okay für dich?«
»Nein! Gar nichts ist okay!«, schrie ich wütend.»Jemand steht nachts vor meinem Fenster und du fährst nach Frankfurt?«
»Das hast du dir sicher nur eingebildet. Vielleicht war es eine Katze oder ...«
»Ich bin nicht blöd! Ich kann durchaus zwischen einer Katze und einem Menschen unterscheiden.«
»Wir wohnen in einem Mehrfamilienhaus, da gibt es noch andere Mieter, die dort ein und aus gehen. Hier ist es anders als in Berkeley ...«
»Ach wirklich?«
»Sam, bitte, sei jetzt nicht kindisch! Ich kann es mir nicht aussuchen, ob ich fahre oder nicht. Immerhin ist der Job hier auch neu für mich. Ich bin in der Probezeit, verstehst du? Es geht um einen enormen Etat von einem unserer Großkunden, und ich riskiere meine Stelle, wenn ich mich querstelle. So leicht ist das leider nicht, wie du meinst. Ich kann nicht zu meinem Chef sagen, dass ich nicht mit zu der Präsentation komme, weil meine Tochter sonst einen Aufstand macht.«
Ich schnappte nach Luft. Er drehte mal wieder alles so hin, wie es für ihn am einfachsten war. Genauso, wie er mich auch aus Amerika hierher nach Trier verfrachtet hatte. Alles ging immer nur nach seinem Kopf. Und wehe, es gab ein Problem, dann verzog er sich einfach. Diesmal nach Frankfurt. Wütend drückte ich das Gespräch weg, schaltete mein Handy aus und knallte es auf den Schreibtisch. Das Bild in dem feinen, hellblauen Rahmen, das daraufstand, fiel um. Ein Schnappschuss aus unserem letzten gemeinsamen Urlaub. Meine Mutter,mein Vater und ich am Strand. Ich packte es wütend und warf es quer durchs Zimmer. Es knallte gegen die Wand und landete verkehrt herum auf dem Boden. Leise klirrte Glas. Mir doch egal, wenn es kaputt war. Es war sowieso alles kaputt. Mein ganzes Leben war ein einziger Scherbenhaufen. Ich starrte auf den Rahmen, der mit dem braunen Rücken nach oben lag. Wenigstens musste ich jetzt das Foto nicht mehr sehen.
Die Wut auf meine Mutter kam zurück, wie so oft. Sie war einfach abgehauen. Von einer Sekunde auf die andere – weg! Sie hatte mich alleingelassen und mein Leben dadurch total aus der Bahn geworfen.
Kapitel 28
Am nächsten Tag klingelte mein Wecker viel zu früh. Ich kriegte kaum die Augen auf. Die Nachttischlampe brannte noch immer, ich knipste sie aus, quälte mich aus dem Bett und ging ins Bad.
Müde stand ich vor dem Waschbecken und riskierte einen Blick in den Spiegel. Oh Mann, ich sah völlig fertig aus und genauso fühlte ich mich auch. Am liebsten hätte ich mich wieder ins Bett verzogen und mich krankgemeldet. Noch vor zwei Tagen hatte ich diesen Montag kaum erwarten können. Die Pause in der Schule mit Christoph, die Nachhilfestunde ... Und nun? Was hätte ich dafür gegeben, diesen Tag einfach zu überspringen.
Obwohl der Wetterbericht für heute Sonne versprochen hatte, war es neblig und trüb. Ich fror und zog mir eine dicke Jacke an, ich konnte es gar nicht warm genug haben. Dann packte ich meine Tasche und setzte mich aufs Fahrrad. Jeder Tritt in die Pedale fiel mir schwer und der Weg schien doppelt so weit. Ich stellte mein Rad hinter die Garagen und ging zum Hauptgebäude, ohne nach links und rechts zu sehen. Wie sollte ich mich verhalten, wenn mir Christoph über den Weg lief? Wollte ich überhaupt mit ihm reden?
»Samantha!«, rief eine Frauenstimme hinter mir. Ich reagierte nicht. Ich war gar nicht hier.
»SAMANTHA!«, hallte es über den Schulhof, fordernd.
Klack, Klack, Klack ... hörte ich schnelle Schritte hinter mir.
»Samantha, bleibst du bitte mal stehen?« Die Stimme war jetzt ganz nah bei mir. Jemand packte meinen Jackenärmel. Wütend schüttelte ich die Hand ab. Die Krähe schnappte nach Luft. Am liebsten hätte ich sie angebrüllt, sie solle mich gefälligst nicht anfassen.
»Sag mal, hörst du mich nicht?«
Ich schluckte meine Antwort hinunter, obwohl es mir schwerfiel. Sie konnte mir genauso den Buckel runterrutschen wie der Rest der Schule.
»Du bist
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