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Schwanenlied: Der fünfte Fall für Katrin Sandmann (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)

Schwanenlied: Der fünfte Fall für Katrin Sandmann (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)

Titel: Schwanenlied: Der fünfte Fall für Katrin Sandmann (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Klewe
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trug das weiße Kleid, das sie für diesen Anlass selbst genäht hatte. Sie hatte es nur an diesem einen Tag getragen. Eigentlich hatte sie später aus dem Schleier ein Taufkleid für ihre Kinder nähen wollen, doch dazu war es nie gekommen.
    Karl wirkte so stark, so unerschütterlich auf diesem Bild, als könne ihm nichts auf der Welt etwas anhaben. Doch der Eindruck täuschte. Er war genauso schwach und verwundbar wie alle anderen, und als hätte Gott ihm das beweisen wollen, hatte er ihn viel zu früh zu sich geholt.
    Anna strich über das Bild. Oder hatte der Herr ihn strafen wollen? Nein, nicht ihn, sie hatte er gestraft mit jedem Tag, den sie nach Karls Tod allein hatte weiterleben müssen. Verdrängte Erinnerungen stiegen in ihr auf, an den Vormittag, bevor der schreckliche Unfall geschehen war. Karl war übellaunig gewesen und fahrig. Er hatte die heiße Milch verschüttet, die sie auf dem Ofen warm gemacht hatte, und sie beschimpft, weil der Topf so voll gewesen war. Später, als sie beim Mittagessen saßen, hatten sie draußen vor dem Fenster den Fremden vorbeigehen sehen.
    »Guck mal!«, hatte Karl gesagt. »Ein Affe im Anzug.«
    »Was der wohl hier will?«, hatte sie sich gewundert und dem schwarzen Mann neugierig nachgesehen. Er trug tatsächlich einen grauen Anzug und eine hellgrüne Krawatte. Schweiß stand ihm auf der Stirn, kein Wunder bei der Hitze.
    »Bestimmt nichts Gutes«, hatte Karl gebrummt. »So einer wie der! Schau ihn dir doch an! Läuft im piekfeinen Anzug herum, während unsereiner sich bei der Arbeit die Hände schmutzig macht. Verkehrte Welt ist das!«
    Wenig später war Karl mit dem Mähdrescher auf das Feld gefahren und nie zurückgekehrt. Sie kamen zu ihr, die Nachbarn, erzählten etwas von einem tragischen Unfall, und dass der Herrgott Karl zu sich geholt habe. Sie müsse jetzt stark sein, auch für das Kind. Sie glaubte ihnen kein Wort, wollte auf das Feld rennen, ihnen zeigen, dass Karl da war, dass er lebte, fröhlich auf dem Bock des Traktors saß und ihnen winkte. Doch sie hielten sie fest, ließen sie nicht aus dem Haus. Sie solle Karl so in Erinnerung behalten, wie sie ihn zuletzt gesehen habe.
    Ein Affe im Anzug. Das war ihre letzte Erinnerung an Karl. Nachdem er aufs Feld gefahren war, war der Fremde wiedergekommen und hatte an die Tür geklopft. Oder bildete sie sich das nur ein? Sie meinte, sich verschwommen an ein Gesicht zu erinnern, an glänzende Schweißperlen auf einer dunklen Stirn, an das Weiß der Augen, so leuchtend hell wie Scheinwerfer bei Nacht. Und an Worte in schwerfälligem Deutsch, die sie kaum verstand. Vielleicht hatte der Fremde aber auch angeklopft, während sie noch beim Essen saßen. Hatte Karl nicht geschimpft, weil der Affe sie beim Essen störte? Anna seufzte. Sie wusste es nicht mehr.
    Als die Polizei zwei Tage später überall im Dorf nach dem schwarzen Mann fragte, sagten alle das gleiche; er sei die Straße hinuntergelaufen, sonst nichts. Nur Anna erzählte, dass der Mann nach dem Grauweilerhof und nach Marius Grauweiler gefragt habe. Und nach einem Mädchen. Er habe wissen wollen, ob dort oben ein Mädchen bei Marius sei, ob seine Tochter auf dem Hof lebe.
    Sie hatte es erzählt, um die Vorstellung loszuwerden, die sie quälte, das Bild von dem fremden Mann, der Karl auf dem Feld ansprach und in gebrochenem Deutsch nach seiner Tochter fragte. Karl sah den Mann verächtlich an und beschimpfte ihn. Der Mann schrie zurück, stieg zu Karl auf den Bock, die beiden rangen miteinander, verloren das Gleichgewicht und fielen unter den Mähdrescher. Es war niemals geschehen. Es war nur eine fixe Idee von ihr. Bestimmt hatte der Mann nie mit Karl gesprochen. Doch die Vorstellung ließ sie nicht los, die Vorstellung von Karl und dem fremden Mann, wie sie sich prügelten, in das mahlende Dreschwerk stürzten und zerstückelt wurden. Hätten die Leute es bemerkt? Hätten sie gesehen, wenn statt einem Mann zwei Männer von der gewaltigen Maschine zermalmt worden wären?
    Anna ließ das Foto sinken. Ja, bestimmt. Sie hätten ja vier Arme und vier Beine gefunden, jeweils zwei davon schwarz wie die Nacht. Sie war sich ganz sicher, nur Karl war damals unter den Drescher gekommen, niemand sonst. Dennoch hatte sie das Bild all die Jahre verfolgt, sie in ihren Träumen heimgesucht, das Bild von zwei Männern, die miteinander rangen, blasse, muskulöse Arme verkeilt in dunkle glänzende Haut. Dann stürzten die beiden Kämpfenden, ein einsamer Schrei gellte über

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