Schwanentanz
aufhörte und die tief hängenden Wolken anfingen. Sie verschleierten den massigen, granitgrauen Bergklotz Benbulben im Norden, wodurch er noch bedrohlicher wirkte. Doch die Sonne ließ sich hinter dem grauen Dunst bereits erahnen und versprach einen schönen Sommertag. Suzanna beschloss, später einen Wasserfall zu besichtigen, über den sie im Touristenführer gelesen hatte.
Etwa einen Kilometer vor Carryglen machte sie eine Silhouette aus, die sich als dunkler Schemen durch den Nebel bewegte. Die Straße war schmal sowie von Gräben gesäumt, das Kopfsteinpflaster holprig, daher musste sie abbremsen, um den Fußgänger nicht zu gefährden. Als sie den Tigra langsam an ihm vorbeirollen ließ, erkannte sie den Mann.
Brandon Cnocach.
Ein wenig Wut regte sich in ihr, mindestens ebenso viel Neugier und ein Hauch von dem Bedürfnis, ihm zu beweisen, dass es ihr ganz hervorragend ging in ihrer Hütte und sie sicher nicht so schnell nach London zurückfahren würde. Als ein Feldweg von der Straße abzweigte und damit Möglichkeit zum Linksranfahren bot, schaltete sie Licht und Radio aus und bremste. Sie hoffte, ihn verwirren oder zumindest überraschen zu können, aber offenbar hatte er sie ebenfalls bereits erkannt. Er blieb neben ihrem geöffneten Fenster stehen und klopfte aufs Autodach.
„Du tanzt ja immer noch hier herum, sterbender Schwan.“
Für einen Augenblick fehlten Suzanna die Worte. Lag es in seiner Absicht, ihr wehzutun, oder hatte er diese Spitze unbewusst gesetzt? Das Solo
Der sterbende Schwan
, in der Ursprungsversion für Anna Pawlowa choreografiert, endet mit einer Pose auf dem Knie.
Sie sah zu ihm auf. In seinem wilden Haar hatten sich winzige Nebeltropfen gefangen, die im Licht bestimmt glitzern würden. Im Düsteren sahen sie aus wie schwarze Perlchen.
„Was verstehst du denn von Ballett?“, gab sie zurück, bemüht, es abfällig klingen zu lassen statt getroffen.
„Nichts.“ Seine Miene blieb ernst. Als er die Mundwinkel nach oben zog, wirkte es mechanisch. „
The plain was grassy, wild and bare. Wide, wild, and open to the air. Which had built up everywhere
.”
„Du schreibst Gedichte?“
Sein falsches Lächeln wurde einen winzigen Moment ehrlich. „Du willst mich veralbern. Das ist
The dying swan
von Lord Alfred Tennyson. Dieses Gedicht war die Inspiration zu eurem Rumgehüpfe in Gardinen. Und das weißt du.“
„In der Tat“, erwiderte sie lapidar und mit einem betonten englischen Unterton. Nur nicht reizen lassen. „Ich wollte mal sehen, ob du ehrlich bist oder es unter deinem Namen rezitierst.“
Er verzog selbstgefällig die Lippen und verschränkte die Arme auf dem Autodach. „Warum sollte ich das tun?“
„Vielleicht willst du mich ja beeindrucken?“ Sie lächelte nicht, aus Sorge, er würde es nicht erwidern. Was hatte er nur an sich, dass ihr Herz schon wieder schneller schlug?
„Sag nicht, du wärst unbeeindruckt.“
Leider hatte er recht. Sie hatte tatsächlich nicht erwartet, dass ein Mann wie er Gedichte von Tennyson kannte. Nun konnte sie wohl davon ausgehen, dass seine Anspielung auf die kniende Pose tatsächlich verletzend gemeint war.
„Seltsam, nicht wahr?“, fragte er mit scharfem Unterton. „Dass das Wrack von Mensch, das du in mir siehst, doch ein wenig von deiner sauberen Glitzerfunkelwelt versteht.“
Und da begriff sie, warum er ihr wehtun wollte. Sie hatte ihn ebenso verletzt. Er stand nach wie vor über ihr Fenster gebeugt. Ein wasserblauer Edelstein baumelte um seinen Hals. Ihr Blick wurde wie magisch von der Goldfassung angezogen. Sie streckte die Hand danach aus, hielt inne, weil er zurückzuckte.
„Darf ich mir das mal ansehen?“
Sein Kehlkopf machte einen Hüpfer, als er schluckte. Aber er lehnte sich wieder vor.
„Unglaublich“, flüsterte sie. Der Stein lag in einem Netz aus kunstfertig geflochtenen Fäden. Es sah aus wie Gold, doch sie hatte nie derart feines und trotzdem reißfestes Goldgespinst gesehen. Es sah aus wie von Spinnengewebt. Suzanna ließ die Kuppe ihres Zeigefingers darübergleiten.
„Wie Seide.“ Sie konnte nicht anders, sie musste ihn anlächeln. „Wo hast du das her? Das ist eine Qualität, die man in der plastischen Chirurgie verwendet, aber selbst da ist das Material nicht derart reißfest.“
„Kennst du dich damit aus?“
„Ich habe eine Ausbildung zur Goldschmiedin gemacht, bevor ich Tänzerin wurde. Du weißt schon, ich hab gestern davon gesprochen. Das Handwerk und der goldene Boden. Was
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