Schwartz, S: Blutseelen 2: Aurelius
fühlen, die sich schützend auf ihre Stirn legte. Sie atmete tief ein und ging gedanklich fort. Die Perspektive wechselte. Sie konnte die Szene von oben sehen.
„Was passiert in deiner Erinnerung?“
„Da sind Gracia und Rene. Ein Bündnis.“
„Das Bündnis unserer Klans.“ Seine Stimme klang nachdenklich. „Warum ist diese Szene für dich wichtig?“
Sie zögerte mit der Antwort. Eine verschwommene Gestalt tauchte vor ihr auf, die sie nicht erkennen konnte. Gleichzeitig hörte sie eine Stimme: „Niemals sollst du dich erinnern.“
„Da ist ... ein Geheimnis.“
„Lass es los. Wir werden es an einem anderen Tag lösen. Versuch, wieder in den Garten zu kommen. Die Erinnerungen, die du suchst, liegen weiter zurück. Viel weiter.“
Es dauerte eine Weile, bis Amalia dem Befehl folgen konnte. Sie stand im Garten, Rosen und Orchideen wuchsen in wilden, ungepflegten Reihen.
„Wo soll ich suchen?“
„Du weißt, wohin du musst.“ Seine Stimme duldete keinen Widerspruch.
Amalia setzte sich zögernd in Bewegung. Sie ging einen Weg aus steinernen Keramikplatten entlang und lief auf eine Mauer zu.
„Da ist eine Wand. Sie ist schwarz und höher als das Portal.“
Aurelius' Stimme wirkte zum ersten Mal irritiert. „Eine Wand?“
„Und ein Schmetterling.“ Fasziniert starrte Amalia auf den riesigen Schmetterling, dessen Flügel gut zwei Meter Spannweite besaßen. Er war aus dem Nichts über ihr aufgetaucht und war so schwarz wie die Wand. Ein feines Muster aus roten Spiralen und Punkten zog sich über die Flügelflächen. Goldene Sprenkel überzogen seinen Leib.
„Glaubst du, dass das Wissen, nach dem wir suchen, hinter der Mauer liegt?“
„Ja.“ Sie blickte die Mauer empor, hinein in einen azurblauen Himmel.
„Dann versuch, sie zu überwinden.“
Sie wollte fragen, wie das gehen sollte, als sie beobachtete, wie sich ein länglicher Stein ein Stück weit aus der Mauer herausschob. Er war dünn wie eine Stange und befand sich oberhalb von ihrem Kopf. Sie griff danach und zog sich daran hoch. Weitere Vorsprünge bildeten sich, auf die sie ihre Füße stellen und an denen sie sich festhalten konnte. Stück um Stück arbeitete sie sich nach oben. Die Sonne brannte erbarmungslos über ihr, und der Schmetterling verschaffte ihr Kühlung durch seine Flügelschläge. Immer weiter zog sie sich hinauf, doch der Abstand zur Mauerkante über ihr verringerte sich nicht. Im Gegenteil.
„Die Mauer wächst. Je höher ich komme, desto höher wird auch sie.“ Sie spürte ein Zittern, das ihren Körper sowohl in ihrer Vision, als auch in Aurelius' Wohnzimmer überkam.
„Bitte die Mauer, dir den Übergang zu gewähren.“
Sie tat es, aber es änderte sich nichts. Sie war inzwischen gut fünf Meter hinaufgeklettert und sah angstvoll nach unten. Was würde geschehen, wenn sie abstürzte? Sie schüttelte den Kopf. Das war nur eine Vision. Ihr konnte nichts geschehen. Oder?
„Brich den Versuch ab und klettere zurück.“ Aurelius' Stimme klang müde. „Für einen ersten Versuch war das nicht schlecht. Wir machen in einigen Stunden weiter. Vielleicht auch erst morgen.“
Amalia gehorchte, enttäuscht und erleichtert zugleich.
„Öffne deine Augen.“
Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie ihr zugefallen waren. Blinzelnd sah sie Aurelius an. „Es tut mir leid.“ Sie hätte ihm gern auf Anhieb die Erinnerungen geschenkt, die er brauchte.
Er streichelte über ihr Haar. „Das muss es nicht. Es hätte auch keine Bindung zustande kommen können. Ich finde, du hast erstaunliche Fortschritte gemacht, und das sehr schnell. Vielleicht ist es an der Zeit, dass du aus diesem Zimmer herauskommst. Ruh dich aus, und heute Abend kommst du mit mir nach oben, ins Anwesen. Es wird dir guttun, dich ein wenig abzulenken, und ich sorge dafür, dass Mai ihre Finger von dir lässt.“
Sie widersprach nicht. Mit einem Mal war sie sehr müde. Ihre Augen schlossen sich erneut. Sie war bei Aurelius, in Sicherheit. Beim Einschlafen tauchte erneut der Schmetterling auf. Der schwarze Schmetterling. Sie streckte die Hand nach ihm aus und verstand, dass er ihr eine Botschaft zukommen lassen wollte. Aber welche Botschaft das war, begriff sie nicht.
B EI M ONTBÉLIARD , F RANKREICH , E NDE J UNI 1637
Aurelius saß in dem wuchtigen Sessel des Salons und trank gemeinsam mit Darion einen heißen Tee. Für Darion war das Spannendste mit Sicherheit nicht die heiße Flüssigkeit, sondern die hübsche Magd, die den Tee samt Gebäck
Weitere Kostenlose Bücher