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Schwarz auf Rot

Schwarz auf Rot

Titel: Schwarz auf Rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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blickte er wieder auf die Photos, die Weiße Wolke für ihn aufgenommen hatte. Der Glitzer und Glamour der dreißiger Jahre sprang dabei nicht u n bedingt ins Auge.
    Vielleicht lag das an Schmutz und Staub, die sich während der Jahre des sozialistischen Aufbaus dort abg e lagert hatten. Solche zynischen Gedanken ziemten sich nicht für einen Parteikader, aber er hatte sie dennoch.
    Schließlich nahm er die Mittagsreste vom Vortag, wärmte sie in der Mikrowelle auf und aß, ohne viel zu schmecken.
    Vielleicht sollte er Bücher über das alte Shanghai zu Rate ziehen. Nicht jene aus den Sechzigern, die er als Kind gelesen hatte, sondern noch ältere. Er notierte sich etwas auf einem Blatt Papier und kochte sich dann Ka f fee. Ihm war klar, daß ihm das um diese Tageszeit nicht guttun würde. Während er den würzigen Duft einsog, fiel ihm auf, wie abhängig er vom Koffein geworden war, doch darüber wollte er sich im Moment keine Gedanken machen. Er mußte sich zusammenreißen.
    Er arbeitete bis spät in die Nacht.
    Plötzlich überkam ihn Müdigkeit – und eine andere Empfindung: Er fühlte sich einsamer denn je.
    Ein paar Zeilen, die eine Freundin einst zitiert hatte, fielen ihm ein: Die Wildente beschließt, nachdem sie j e den kalten Ast probiert hat, sich nicht niederzulassen, wo frostig die Ahornblätter fallen über dem Fluß Wu. Sie stammten aus einem Gedicht von Su Dongpo. Man hatte sie als politischen Kommentar gedeutet, doch oft galten sie auch als Metapher für die Schwierigkeit, irgendwo Wurzeln zu schlagen. Die Freundin hatte sie als Rech t fertigung für ihren unsteten Lebensstil benutzt.
    Seine Aufmerksamkeit wandte sich einem vertrauten Geräusch zu, ähnlich dem Rascheln einer Wildente zw i schen fallenden Ahornblättern. Eine Zikade zirpte vor dem Fenster.
    Schon als kleiner Junge hatte er gelernt, daß es nur e i nen Grund gab, weshalb eine Zikade so energisch ihre Flügel strich, und das war der Triumph über einen b e siegten Gegner.
    Doch was hatte die Zikade davon, wenn sie, siegreich oder nicht, von der vergoldeten Binse in der Hand eines Jungen angestachelt, endlos in der geschlossenen Welt ihres irdenen Gefängnisses kreiste?

6

    Nach eingehendem Studium von Liangs Liste ve r dächtiger Mitbewohner nahm Yu am folgenden Tag in aller Frühe die Ermittlungen auf. Im Büro des Nachba r schaftskomitees lag bereits ein neuer Ordner mit Info r mationen über jeden Verdächtigen bereit; vermutlich stammten sie aus den Akten des altgedienten Nachba r schaftspolizisten.
    Ganz oben auf der Liste stand Lanlan, die die Leiche entdeckt hatte. Theoretisch hatte sie sowohl die Gelege n heit als auch die Mittel gehabt, das Verbrechen zu beg e hen; und glaubte man dem Alten Liang, so hatte sie auch ein Motiv.
    Lanlan war eine Nachbarin, die sich in alles einmisc h te. Innerhalb von drei Minuten konnte sie die persönlic h sten Dinge aus jemandem herausfragen, den sie nie zuvor gesehen hatte. Yin hatte ihr allerdings einen herben G e sichtsverlust zugefügt, indem sie ihre wiederholten Freundschaftsangebote zurückgewiesen hatte. Schließlich gab Lanlan auf und beklagte sich mit folgenden bitteren Worten bei den Nachbarn: »Es ist, wie wenn man seine heißen Wangen an einen kalten Hintern drückt. Was soll ’ s?«
    Aber das reichte nicht, um eine derartige Explosion auszulösen, es sei denn, die Lunte war bereits zum Gl ü hen gebracht worden, und das geschah in shikumen -Häusern meist durch den ständigen Streit um die G e meinschaftseinrichtungen. In solch beengten Wohnve r hältnissen versuchte jede Familie, so viel Platz wie mö g lich für sich zu ergattern – »auf faire Weise« versteht sich. Liang hatte auch gleich ein Beispiel parat. Yin stand ein Kohleherd und ein kleines Tischchen in der Gemei n schaftsküche zu. Das war ihr Bereich, den sie von ihrem Vormieter im tingzijian übernommen hatte, und sie bea n spruchte ihn, obwohl sie kaum kochte. Ferner hatte sie, wie schon ihr Vormieter, einen kleinen Kerosinofen n e ben ihrer Tür auf dem Treppenabsatz. Genau wie alle anderen gab sie keinen Zentimeter preis, den sie einmal erobert hatte. Das dürfte einige ihrer Nachbarn erbost haben.
    Eines Abends kam Lanlan eilig die Treppe herauf und stolperte über den Kerosinofen. Auf der Platte stand ein Kessel mit heißem Wasser, er fiel um und verbrühte La n lan den Knöchel. Das war nicht unbedingt Yins Schuld, schließlich stand der Ofen schon seit Jahren dort. Lanlan hätte das Licht anschalten, oder

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