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Schwarz auf Rot

Schwarz auf Rot

Titel: Schwarz auf Rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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mit dem Mordfall zu tun.«
    »Da mögen Sie recht haben«, erwiderte Chen. »And e rerseits weiß man nie.« Ein Gedicht hatte ihm vor einiger Zeit die entscheidende Eingebung in einem Vermißte n fall gegeben.
    »Die Bank ist ganz bei Ihnen in der Nähe. Ich könnte Sie zum Mittagessen einladen, Chef. Sie brauchen doch auch mal eine Pause. Wie wär ’ s mit dem Restaurant g e genüber? Ich glaube, es heißt Kleine Familie.«
    »Abgemacht«, sagte Chen. »Ich weiß, welches Sie meinen.«
    Eine gute Gelegenheit, sich, wie er Parteisekretär Li versprochen hatte, über den Stand der Ermittlungen im Fall Yin zu informieren.
    Würde Weiße Wolke, die ja für ihn kochen wollte, en t täuscht sein? Sie ist rein dienstlich hier, sagte er sich, als er aufbrach, und schrieb ihr eine Botschaft auf einen Ze t tel.
    In dem Restaurant gegenüber der Bank herrschte reger Andrang. Yu war in Uniform, und sie bekamen einen Ecktisch, d er ein wenig abgeschirmt war. Sie bestellten jeder eine Schale Nudeln mit in Sojasoße sautierten Ku t teln. Auf Empfehlung der freundlichen Bedienung b e stellten sie noch zwei kleine Vorspeisen, einmal Flu ß krabben, mit Chilischoten und Semmelbröseln g e schmort, und in Salzwasser gekochte grüne Sojabohnen, dazu brachte sie jedem eine Flasche Qingdao-Bier auf Kosten des Hauses.
    Zahlreiche junge Bedienungen huschten durch den Gastraum wie Schmetterlinge. Ihrem Akzent nach stammten sie nicht aus Shanghai. Im Zuge der Reformen strömten nun auch immer mehr junge Mädchen aus der Provinz in die Stadt. Privatunternehmer stellten sie zu Niedriglöhnen ein. Shanghai war bereits Anfang des 20. Jahrhunderts eine Stadt der Einwanderer gewesen. Die Geschichte wiederholte sich.
    Das Manuskript, das Yu mit ins Lokal gebracht hatte, bestand aus zwei Ordnern. In einem waren die Texte handgeschrieben, im anderen war alles ordentlich getippt. In letzterem gab es weder Korrekturen noch Tippfehler. Offenbar war es mit dem Computer geschrieben worden. Inhaltlich waren die beiden Konvolute identisch.
    Hauptwachtmeister Yu hatte recht gehabt. Das Man u skript enthielt eine Auswahl klassischer chinesischer Liebesgedichte. Sie umfaßte Dichter wie Li Bai, Du Fu, Li Shangyin, Liu Yong, Su Shi und Li Yu; der Schwe r punkt lag auf den Dynastien Tang und Song. Die Übe r tragungen waren, sofern Chen das nach Überfliegen der ersten paar Seiten erkennen konnte, flüssig und gut le s bar.
    Noch etwas anderes fiel ihm auf. Die ursprüngliche Form – entweder eine vier-oder achtzeilige Strophe – war in der englischen Übersetzung nicht mehr erkennbar, dafür war der Text erfüllt von einer überraschend mode r nen Sensibilität:
    Eine Seidenraupe im Frühling wird bis zum Tod n icht aufhören zu spinnen. Die Tränen einer Kerze t rocknen erst, wenn sie niederge b rannt ist.
    Im chinesischen Original war dies, wie Chen sich e r innerte, ein bekannter Vers über die selbstverzehrende Leidenschaft eines Liebenden. Doch jetzt hatte er nicht die Zeit, das Manuskript in Ruhe zu lesen. Aber der erste Eindruck ließ ihn nicht glauben, daß es sich um Yins A r beit handelte.
    »Ja, das sind Gedichtübersetzungen.«
    »Aber warum hat sie die als so wertvoll erachtet?«
    »Ein anderer muß sie gemacht haben – vermutlich Yang«, sagte Chen. »Ja, Moment mal, hier ist ein Nac h wort von ihr. Darin schreibt sie, daß es sich um Yangs Übertragungen handelt. Sie hat die Sammlung nur h e rausgegeben.«
    »Bitte nehmen Sie das mit. Lesen Sie es, wenn Sie Zeit finden. Vielleicht fällt Ihnen etwas dabei auf. Wäre das möglich, Chef?«
    Chen willigte ein und fragte dann: »Haben die Befr a gungen etwas Neues ergeben?«
    »Nein, nicht wirklich. Ich habe den ganzen Morgen mit Bewohnern des shikumen gesprochen. Diese Hyp o these scheint mir immer unwahrscheinlicher.«
    »Sie meinen die Theorie, daß der Mörder im Haus wohnt?«
    »Ja. Ich habe die Liste der Verdächtigen durchges e hen, die der Alte Liang mir gegeben hat. Yin war nicht beliebt, zum einen wegen banaler Streitigkeiten, zum anderen wegen ihrer Rolle in der Kulturrevolution, aber beides scheint mir kein Mordmotiv zu sein.«
    »Die Alternative wäre, daß der Mörder etwas aus i h rem Zimmer stehlen wollte, von ihr überrascht wurde und dann in Panik geriet. Diese Möglichkeit haben Sie doch auch mit dem Alten Liang diskutiert, wenn ich mich recht erinnere.«
    »Das wäre denkbar. Aber war sie denn für einen Ei n brecher überhaupt interessant? Jeder wußte doch, daß sie keine

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