Schwarz auf Rot
konnte.«
»In jenen Jahren haben sich die Menschen an alles g e klammert«, sagte er. »Sie griffen nach jedem Strohhalm, bloß um sich ein bißchen Menschlichkeit zu bewahren. Das mag auch auf sie zugetroffen haben – und auf ihn.«
»Schon möglich«, stimmte sie zu. »Vielleicht bin ich zu sehr auf ihn und seine Arbeiten eingeschworen. Beim zweiten Lesen, nachdem ich all die Hintergrundinform a tionen hatte, habe ich noch einmal genauer hingesehen und kam zu dem Schluß, daß er ihr wirklich viel bedeutet haben muß. Ein so starkes Gefühl ist wohl keine gute Voraussetzung für das Schreiben. Sie war eine beda u ernswerte Frau.«
»Das glaube ich auch«, sagte er und griff nach der Z i garettenschachtel auf dem Nachttisch.
»Bitte nicht«, sagte sie mit einem Blick auf den We c ker. »Wir haben lange genug über andere geredet.«
Unter der Bettdecke spürte er, wie ihre Zehen an se i nem Schienbein entlangfuhren. Sofort fühlte er sich nach Yunnan zurückversetzt, an den Bach, der hinter ihrer Hütte vorbeifloß.
Er las die Botschaft in ihren Augen und klopfte die Kopfkissen zurecht. Es war eine jener seltenen Nächte ungestörter Zweisamkeit, wo sie nicht die Luft anhalten und jedes Geräusch vermeiden mußten, wenn sie sich in den Armen lagen.
Danach hielt er noch lange friedlich ihre Hand.
Zu seiner Überraschung begann Peiqin leise zu schna r chen, wenn auch nur gelegentlich, ein Zeichen, daß sie übermüdet war. Vermutlich war sie die letzten Nächte besonders lange aufgeblieben, um für ihn zu l e sen.
Nach all den Jahren steckte Peiqin noch immer voller Überraschungen.
Manchmal fragte er sich, ob sie nicht ein anderes L e ben hätte führen sollen. Hübsch und talentiert, wie sie war, wäre sie ihm sicher nie begegnet, wenn die Kultu r revolution sie nicht zusammengebracht hätte. Yu hatte also tatsächlich Gründe, dankbar zu sein. So viele Jahre nach dieser nationalen Katastrophe war sie noch immer an seiner Seite, und nun half sie ihm sogar bei seinen Ermittlungen.
Trotz aller Enttäuschungen hielt Yu sich für einen Glückspilz.
Doch plötzlich wurde ihm unbehaglich, und das hatte nicht unbedingt mit Yin und Yang zu tun. Das ungute Gefühl war v age und bedrohte ihn dennoch persönlich. Ihm wurde klar, daß niemand vorhersagen konnte, ob nicht noch einmal eine Kulturrevolution über China h e reinbrechen würde.
Kurz vor dem Einschlafen schwirrten sonderbare G e danken durch seinen Kopf: Zum Glück ist Peiqin keine Schriftstellerin, war einer der halbfertigen Sätze, die er dachte, bevor er endgültig einschlief.
9
Oberinspektor Chen erwachte mit einem Gedanken, der mindestens ebenso unangenehm war wie das schrille Klingeln, das vom Nachttisch herüberschallte. Er gab sich geschlagen, noch zu verschlafen, um zu ahnen, wem.
Er stand auf und rieb sich die Augen. Draußen herrschte graues Morgenlicht.
Es war nicht sein Fall, sagte er sich einmal mehr. Yu hatte alles Notwendige unternommen. Zum jetzigen Zeitpunkt würde auch sein Eingreifen keinen Fortschritt bringen. Er mußte sich auf die Übersetzung des Projek t entwurfs für die New World konzentrieren, der vor ihm auf dem Tisch lag.
Gu hatte ihn weniger unter Druck gesetzt, als Parteis e kretär Li dies im Hinblick auf die Übernahme des Falls Yin getan hatte, zumindest war er dabei nicht so offe n sichtlich vorgegangen. Chen konnte sich allerdings des Eindrucks nicht erwehren, daß Weiße Wolke nicht nur seine Assistentin sein sollte, sondern auch eine subtile Erinnerung daran, daß er mit der Übersetzung vora n kommen mußte.
Dennoch empfand Chen die Verpflichtung, bei den Ermittlungen zu helfen. Dafür gab es eine Reihe guter Gründe. Er sollte sich vor allem für Yang einsetzen, e i nen Schriftstellerkollegen, dessen Karriere auf tragische Weise behindert und beendet worden war und dessen Werke er schon längst hatte lesen wollen.
Während der Schulzeit hatte Chen den Roman Martin Eden in Yangs Übersetzung gelesen und kannte Yang als einen der angesehensten Vermittler englischer Prosa. Später hatte Chen dann Englisch studiert und die Bücher im Original gelesen. Und als er schließlich selbst Gedic h te schrieb, hatte er noch keines von Yangs Gedichten, die damals schwer greifbar waren, zur Kenntnis genommen. Als dann endlich ein Gedichtband v on Yang herauskam, war Chen bereits ein aufstrebender Parteikader, der viel zu beschäftigt war, um allen seinen Lektürewünschen nachzugehen.
Sogar sein eigenes Schreiben war,
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