Schwarz auf Rot
Kurzgeschichte von O. Henry fand sie den Sinn des Lebens in einem einzelnen an die Wand gema l ten Blatt eingefangen, und als Yang sich mit diesem Blatt verglich, hielt sie ihm erschrocken den Mund zu.
Für sie war es ein Wendepunkt. Durch ihn erhielten die Dinge ungeahnte Bedeutung – ja, er selbst war diese Bedeutung. In ihr erwachte eine Leidenschaft, die sie nie zuvor empfunden hatte und die ihrem Leben neuen Sinn gab.
Und für ihn bedeutete diese Beziehung einen Sieg des Menschlichen nach all den politischen Katastrophen, die über ihn hereingebrochen waren. In seiner Büche r welt kämpfte er für die Liebe als eines jener Ideale, die er so viele Jahre hochgehalten hatte. Es hatte Momente in se i nem Leben gegeben, in denen er desillusioniert gew e sen war, doch jetzt war er von neuem Optimismus durc h drungen.
Die Liebe war erst spät zu ihm gekommen, aber sie hatte alles verändert.
Die Kaderschule lag in einem Sumpfgebiet im Kreis Qingpu. Weit und breit gab es weder eine Bibliothek noch ein Kino. Statt sich in dem beengten Zimmer au f zuhalten, unternahmen sie Arm in Arm weite Spaziergä n ge. Denn Liebende existieren einzig im Zusamme n sein.
Yang war damals Mitte Fünfzig. Sah man von seiner gesprungenen Brille ab, hätte man ihn für einen Bauern halten können. Er war wettergegerbt, weißhaarig wie e i ne Eule und ging leicht gebeugt. Yin dagegen war gerade Anfang Dreißig. Sie war zwar keine Schönheit, aber die Leidenschaft stand ihr gut zu Gesicht, an seiner Seite blühte sie auf. Zur Verwunderung aller war sie es, die immer wieder seine Nähe suchte.
Sein weißes Haar leuchtete an ihren rosigen Wangen, wie es in dem bekannten Sprichwort heißt. Doch dort war es negativ gemeint und sollte das Unschickliche einer solchen Beziehung hervorheben. Was die beiden Liebe n den aneinander fanden, war natürlich ihre Sache. Beide waren alleinstehend, und juristisch sprach nichts gegen eine solche Verbindung, zumal der Vorsitzende Mao schon zu Beginn der Revolution die Zerschlagung des bürgerlichen Rechtssystems gefordert hatte.
Niemanden hätte daran Anstoß nehmen müssen, aber es kam anders.
Yin war nicht beliebt in der Kaderschule. Einige ihrer Mitstudenten hatten unter ihr zu leiden gehabt, als sie noch Rotgardistin war. Und die Schulbehörde sah es n a türlich auch nicht gern. Eine solche Beziehung konnte sich zum politischen Skandal auswachsen. Statt umerz o gen zu werden, verliebten s ich die Studenten ineinander. Das war politisch höchst unkorrekt, denn romantische Liebe galt in den frühen Siebzigern als politisch tabu. Sie lenkte auf dekadente Weise von der nötigen Hingebung an den Großen Vorsitzenden und die Partei ab. Die be i den versuchten nicht, ihre Beziehung zu verheimlichen, was beweist, wie naiv sie waren.«
Während Peiqin in dem Roman blätterte, sagte Yu: »Stimmt, in keiner der acht revolutionären Pekingopern kommt ein verheiratetes Paar vor – mit Ausnahme der Madam Aqin, deren Mann praktischerweise auf G e schäftsreise ist. Alle sind allein von politischer Leide n schaft beseelt; persönliche Gefühle gibt es in diesen O pern nicht.«
»Ah, da ist die Stelle«, sagte Peiqin und setzte sich bequemer hin. »Das hier wollte ich dir vorlesen:
› Sie lebten in einer Welt, in der auf nichts Verlaß war. Es gab keine Sicherheit, keine Verläßlichkeit, keine Überzeugungen.
Es gab nur ihn in ihr und sie in ihm.‹ «
Nach getaner Arbeit las er ihr manchmal Gedichte vor, zuerst auf chinesisch, dann auf englisch. Sie saßen hinter dem Schweinestall der Kaderschule oder auf einem Damm zwischen Reisfeldern, ihre Hände schmutzverkr u stet. Über ihnen wiederholte ein Lautsprecher ewig di e selben Mao-Parolen, schwarze Krähen kreisten über den verlassenen Feldern.
Sie erkannten, daß die Kulturrevolution eine nationale Katastrophe darstellte, in der jegliche Individualität ze r stört worden war; ›zu Asche verbrannt‹, wie es in einem revolutionären Slogan hieß. Doch für sie beide war es, als wären sie aus dieser Asche wiedergeboren.
» ›Eine schreckliche Schönheit ist entstanden ‹, sagte er. ›Es wird eine neue Zukunft geben für die Menschen und für das Land .‹
Sein Lieblingsgedicht stammte von der Dichterin Guan Dao-sheng aus dem 13. Jahrhundert und hieß ›Du und ich‹. Für ein klassisches chinesisches Gedicht war dort, wie er ihr v ersicherte, der Leidenschaft ungewöh n lich deutlich Ausdruck verliehen worden:
›Du und ich, sind g anz
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