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Schwarz auf Rot

Schwarz auf Rot

Titel: Schwarz auf Rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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auch wenn sie alle in einem einzigen Raum zusammeng e pfercht leben mußten. Ihre Arbeit im Restaurant war zwar langweilig, aber sie stand, im wörtlichen und übe r tragenen Sinn, eine Stufe über dem Küchenpersonal. Längst hatte sie für sich akzeptiert, daß Glück nur in der Bescheidung lag.
    Unter anderem Blickwinkel betrachtet, paßte ihr die eintönige, wenig herausfordernde Arbeit eigentlich ganz gut. So konnte sie sich mehr ihrer Familie widmen. Die besten Jahre ihrer Jugend waren während der Kulturrev o lution vergeudet worden, doch sie haderte nicht mit i h rem Schicksal oder klagte wie so viele andere. Sie gab sich mit der traditionellen Rolle einer guten Ehefrau und Mutter zufrieden.
    Dennoch war sie in letzter Zeit nicht mehr so glücklich über diesen Status quo. Die Welt um sie herum verände r te sich. Manche der Werte und Überzeugungen, die sie für ihr Leben gefunden zu haben glaubte, brachen weg. Ich weiß nicht, aus welcher Richtung der Wind weht. Diese Zeile hatte sie irgendwo gelesen, und sie schien ihr jetzt zutreffend. Die Arbeit im Restaurant füllte sie nicht aus. Sie mußte der Tatsache ins Auge sehen, daß die E i sernen Reisschüsseln, die ihre beiden Jobs darstellten, künftig nur die elementarsten Bedürfnisse decken wü r den. Das Fiasko mit der neuen Wohnung hatte sie in di e ser Erkenntnis nur bestärkt. Qinqin sollte es einmal be s ser haben, das stand für sie fest. Fast alle in Qinqins Klasse hatten Nike-Turnschuhe, und Peiqin wollte ihm auch ein Paar kaufen. Zu ihrer Schulzeit hatte es solche Markennamen nicht gegeben; armeegrüne Stoffschuhe mit Gummisohle waren die Norm. In Yunnan war sie manchmal auch barfuß gegangen, weil sie ein Paar Sch u he, das ihr vor der Abreise zugeteilt worden war, ihrer Nichte geschickt hatte. Auch heute noch kam sie ohne Kosmetika aus, wenngleich die Fernsehwerbung sie z u nehmend verlockte. Beim letzten Klassentreffen war eine ihrer früheren Mitschülerinnen im Mercedes vorgefahren, und die meisten i m Raum hatten sie deswegen beneidet. In der Schule war sie ein Niemand gewesen, die gel e gentlich von Peiqin die Hausaufgaben abschrieb. Die Welt hatte sich wahrhaftig verändert.
    Und nun hatten die Ermittlungen im Fall Yin Lige plötzlich Bedeutung für sie erlangt. Diese Bedeutung war nicht neu, und sie betraf nicht nur sie allein, sie reichte zurück bis in ihre Zeit in der Oberschule. Auch damals hatte sie heimlich gelesen. Seinerzeit waren nur die We r ke des Vorsitzenden Mao offiziell erhältlich gewesen, die Bibliotheken waren geschlossen, Romane und Gedichte nicht verfügbar. Und ein junges Mädchen mit ihrem F a milienhintergrund mußte ganz besonders vorsichtig sein, weshalb sie die Romane in den Ärmeln ihres wattierten Mantels verbarg. Wie alle anderen mußte Peiqin auf fr ü her erschienene Bücher zurückgreifen, die heimlich zi r kulierten. Ihr »Reichtum« bestand aus einem halben Du t zend vor den Roten Garden geretteter Bücher, die sie in einem heimlichen Leihzirkel mit Gleichgesinnten au s tauschte. Innerhalb dieses Zirkels hatte jedes Buch einen gewissen »Tauschwert«: Balzacs Vater Goriot war so viel Wert wie Dickens ’ Harte Zeiten plus ein chines i scher Roman, etwa Lied der Jugend oder Die Geschichte der Roten Fahne. Wenn es einem der Mitglieder gelang, durch einen auswärtigen Kontakt ein neues Buch zu o r ganisieren, wurde es allen Mitgliedern zugänglich g e macht, allerdings nur für einen einzigen Tag.
    Damals hatte sie eine Vorliebe für bestimmte Autoren entwickelt. Yang, der bekannte Übersetzer zeitgenöss i scher Literatur, war einer ihrer Favoriten gewesen. Ihrer Ansicht nach reichte kaum ein moderner chinesischer Autor an seine stilistische Innovationskraft heran. Sein einzigartiges Sprachgefühl erlaubte es ihm, westliche Ausdrücke und gelegentlich auch Satzstrukturen ins Ch i nesische einzuführen. In der Geschichte der modernen chinesischen Literatur, so hatte sie festgestellt, gab es viele Intellektuelle, die sich eher als Übersetzer denn als Schriftsteller betätigten. Das hatte nachvollziehbare pol i tische Gründe.
    Als sie die Oberschule verlassen mußte, um nach Y unnan zu gehen, hatte sie einige dieser »giftigen« B ü cher mitgenommen. Mit Yu hatte sie darüber nicht gespr o chen. Nicht, daß sie etwas vor ihm geheimhalten wollte, sie befürchtete vielmehr, daß ihre Leidenschaft für B ü cher sie in seinen Augen weniger attraktiv machen wü r de. Außerdem war Yu viel zu beschäftigt

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