Schwarz auf Rot
Unweit davon, auf einem Bambu s stuhl, saß Wan mit einem lila Steingutbecher in der Hand. Es war nicht unbedingt die Jahreszeit, um draußen zu sitzen und nichts zu tun. Beim Anblick von Haup t wachtmeister Yu murmelte Wan ein paar entschuldige n de Worte und verschwand.
Nachdem Yu sich vorgestellt hatte, führte Lindi ihn nach oben in ein kleines Zimmer. Schon für eine Familie war dies als einziger Wohnraum viel zu eng, geschweige denn für drei Familien. Sie lebte hier mit ihrem Sohn und dessen »Frau«, ihrer Tochter, einem schreienden Baby und zeitweilig auch n och mit dem Schwiegersohn Cai. Glücklicherweise hatte der Raum eine relativ hohe De c ke, weshalb man zwei zusätzliche Schlafdecks eingez o gen hatte, die durch Leitern erreichbar waren. Im Ve r gleich dazu, sagte sich Hauptwachtmeister Yu nicht ohne Sarkasmus, waren seine Wohnverhältnisse geradezu l u xuriös.
Lindi erklärte, daß Cai heute nicht da sei und er sei auch am Morgen des 7. Februar nicht dagewesen. »Ke i ner weiß genau, was er treibt«, sagte Lindi m it einem Seufzer. »Ich habe Xiu zhen immer gewarnt, aber sie hat nichts davon wissen wollen.«
»Ich habe schon gehört. Und was ist mit ihrem Sohn Zhengming ?«
»Er betrachtet sein Zuhause als kostenfreies Hotel, einschließlich Verpflegung. Er kommt, wann immer es ihm paßt. Und jetzt bringt er auch noch diese Person mit.«
»Bitte erzählen Sie mir, was Sie über Yin wissen, G e nossin Lindi.«
»Sie war anders als die anderen.«
»Inwiefern?«
»Sie hatte ihr Zimmer ganz für sich allein, während wir unseres mit drei Familien bewohnen. Sie hat während der Kulturrevolution gelitten? Wer hat das denn nicht, frage ich Sie. Mein Mann starb im bewaffneten Kampf der Arbeitertrupps und glaubte bis zu seinem letzten A temzug, er würde für Mao kämpfen. Nach seinem Tod wurde nicht einmal eine Trauerfeier abgehalten.« Nach einer Pause fuhr sie fort: »Der Hauptgrund, warum Xiu z hen diesen Cai geheiratet hat, war nicht sein Geld – d a von hatte er von Anfang an nicht viel –, sondern die Ta t sache, daß sie ihren Vater verloren hat, als sie vier war.«
»Verstehe«, sagte Yu. Diese einfühlsame Analyse der Beweggründe ihrer Tochter, einen wesentlich älteren Mann zu heiraten, überraschte Yu.
»Leider kann ich Ihnen nicht viel über Yin erzählen. Die Kulturrevolution hat so viele Tragödien hinterlassen. Yin war Schriftstellerin und hat ein Buch darüber g e schrieben, aber mit unsereinem hat sie nicht über diese Dinge g e sprochen«
Hauptwachtmeister Yu dankte ihr für das Gespräch. Als er die Treppe hinunterging, empfand er tiefe Niede r geschlagenheit. Die Menschen schienen noch immer in den Staub der Vergangenheit gehüllt, so wie das shik u men selbst, sie lebten noch immer im Schatten der Ku l turrevolution. Die Regierung rief die Menschen dazu auf, in die Zukunft zu blicken, und den Blick nicht nach rückwärts zu richten, doch das fiel manchen schwer. Zu diesen Menschen gehörten Yin, Lindi, Wan, ja nahezu alle, mit denen er bislang gesprochen hatte, mit Ausna h me von Herrn Ren. Inzwischen fragte sich Yu, ob Herr Ren wirklich vergessen konnte, indem er seine Erinn e rungen in Schalen mit dampfenden Nudeln ertränkte.
Beim Verlassen des Gebäudes fiel ihm Leis Kammer gleich neben dem Haupteingang ins Auge. Eigentlich konnte das Gespräch mit Lei noch warten, aber nach e i nem Blick auf die Uhr entschloß sich Hauptwachtmeister Yu, dessen Mittagsservice auszuprobieren. Vor dem Stand hatte sich bereits eine beachtliche Schlange gebi l det, und er reihte sich geduldig ein. Ein guter Beobac h tungsposten. Statt der Hilfe, die er kürzlich angestellt hatte, rührte Lei heute selbst im Wok. Am Eingang der Gasse standen mehrere grobgezimmerte, ungestrichene Tische und Bänke. Viele Kunden machten sich mit ihren Essensbehältern auf den Heimweg, aber manche ließen sich dort nieder. Auch Yu suchte sich einen Platz.
Das Essen schmeckte gut. Eine reichliche Portion g e bratener Flußaal mit Zwiebelgrün und Sesamöl auf g e dämpftem weißen Reis, dazu eine Suppe aus sauer eing e legtem Gemüse und Schweinefleischstreifen; und das alles für fünf Yuan.
Anschließend rief er Peiqin an, er hatte eine Frage: »Glaubst du, daß Leis Steuererklärung verläßlich ist?«
»Nein, vermutlich ist sie das nicht«, erwiderte sie. »Private Restaurants machen jede Menge Geschäfte an der Steuer vorbei. Das ist ein offenes Geheimnis. Alles wird bar bezahlt, und k aum jemand
Weitere Kostenlose Bücher