Schwarz auf Rot
jetzt früh am Morgen gepult. Viele Shanghai e rinnen kaufen auf dem Markt ein, bevor sie zur Arbeit gehen. Deshalb müssen sie noch vor halb acht gepult sein.«
»Dann fängt sie also jeden Tag gegen sechs an?«
»Ja. Sie hat keine andere Wahl. Die ganze Familie lebt von ihrem Verdienst auf dem Lebensmittelmarkt«, e r klärte Zhong. »Warum, ist sie in Schwierigkeiten?«
»Nein. Ich habe nur ein paar Fragen an sie.«
»Ich werde sie holen lassen.«
»Das ist nicht nötig. Ich gehe ohnehin zum shikumen. Sie wird doch sicher in der Gasse sitzen.«
Und so war es. Die Krabbenfrau saß auf ihrem Ba m busstühlchen gegenüber der Hintertür, zu ihren Füßen einen Korb mit gefrorenen Krabben. Sie war Ende Vie r zig oder Anfang Fünfzig, und ihr Gesicht war dünn wie die Melassekuchen seiner Kindheit. Sie trug eine altm o dische Brille, deren Gläser mit Resten von Krabbensch a len verschmiert waren.
Peng lächelte nervös, als Yu vor ihr stehenblieb. Er hockte sich rauchend neben sie, sagte aber nichts. Es war bitterkalt; die freie Hand behielt er in der Hosentasche.
»Genosse … Genosse Hauptwachtmeister«, stammelte sie.
»Sie wissen sicher, warum ich hier bin, nicht wahr?«
»Nein, das weiß ich nicht, Genosse Hauptwachtme i ster«, sagte sie, »aber ich nehme an, es ist wegen Yin Lige. Die arme Frau. Der Himmel muß blind sein. Das ha t te sie wirklich nicht verdient.«
» Arme Frau?« Ihr mitleidsvoller Ton überraschte ihn. Die Krabbenpulerin hatte sich in einen uralten Mantel gewickelt, der wie ein Armeemantel geschnitten war, und den Kragen zum Schutz gegen den Wind hochgeschl a gen. Ihre Finger waren geschwollen, rissig und von Krabbenschleim bedeckt. Ganz offensichtlich war nicht Yin, sondern sie zu bedauern.
»Sie hatte ein gutes Herz. Das Leben ist unfair. Sie hat so viel erdulden müssen während der Kulturrevolution«, erklärte sie.
»Können Sie mir mehr über sie erzählen?« fragte Yu. Sonderbar, sagte er sich. Ihre Einstellung zu Yin unte r schied sich grundlegend von der ihrer Nachbarn. »Etwa über ihre Gutherzigkeit. Können Sie mir vielleicht ein Beispiel geben?«
»Viele Leute hier in der Gasse behandeln mich wie den letzten Dreck. Sie beklagen sich über den Krabbe n geruch. Das verstehe ich ja, aber was soll ich machen? Im Hof kann ich sie auch nicht pulen, sonst jagen die Mitbewohner mich aus dem Haus. Yin war die einzige, die Verständnis hatte. Nachdem ihr Artikel in der We n hui-Zeitung erschienen war, ging das Nachbarschaftsk o mitee zu ihr und erkundigte sich, ob sie andere Vorschl ä ge für Arbeitsmöglic h keiten in der Gasse hätte. Sie hat ein gutes Wort für mich eingelegt. Daraufhin hat das Nachbarschaftskomitee mir eine Sondererlaubnis ausg e stellt, damit ich hier arbeiten darf.«
»Das klingt, als habe sie sich wirklich gekümmert, wenn jemand in Not war.«
»Ja, das stimmt. Sie hat mir ein paar Schulbücher für meine Tochter gegeben und für mich einen neuen Pl a stikklappstuhl, den man auch als Liege benutzen kann. Aber das ist schon drei, vier Jahre her.«
»Einen Plastikstuhl? Wieso denn das?«
»In jenem Sommer hatte sie jemanden zu Besuch, ich glaube, es war ihr Neffe …«
»Wie bitte?« unterbrach sie Yu. Er hatte nie zuvor von einem Neffen gehört. Auch Alter Liang hatte ihn nicht erwähnt. »Moment mal – ein Neffe? Hat sie ihn selbst so bezeichnet?«
»Ich bin mir nicht ganz sicher, aber sie hat ihn mir einmal vorgestellt. Er war damals noch ein Junge, vie l leicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Er kam vom Land. Ich weiß nicht, woher. Sie hatte keine weiteren Verwandten in der Stadt, hat sie erzählt.«
»Wohnte er bei ihr im tingzijian ?«
»Ja, aber nicht wirklich. In einem so winzigen Kä m merchen kann man keine Gäste beherbergen. Sie hat di e sen Klappstuhl gekauft, damit er im Hof schlafen konnte. Es kommt hier oft vor, daß Leute draußen übernachten, manchmal sogar in der Gasse. Einmal war der Hof schon voll. Da mußte sie die Liege vor meiner Tür aufbauen. Bei dieser Gelegenheit hat sie ihn mir vorgestellt, aber sie hat nicht viel über ihn gesagt.«
»Wie lange war er bei ihr?«
»Vielleicht vier oder fünf Tage. Weniger als eine W o che.«
»Haben Sie mit ihm gesprochen?«
»Nein. Tagsüber war er unterwegs, glaube ich. An e i nem Abend habe ich ihn mit ihr zusammen zurückko m men sehen. Vielleicht hat sie ihm die Stadt gezeigt. Als er wieder weg war, hat sie mir den Stuhl geschenkt.«
»Ist er seitdem noch mal
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