Schwarz auf Rot
den Antrag über den Shanghaier Schriftste l lerverband gestellt, weil deren Büro direkt der Stadtregi e rung untersteht, aber ich vermute, daß einige ihrer Koll e gen an der Uni davon gewußt haben.«
»Ich habe mit ihrem Abteilungsleiter gesprochen, der hat nichts dergleichen erwähnt.«
»Das ist verständlich. Bei jemandem wie Yin gilt ein Paßantrag als höchst vertrauliche Angelegenheit, die man nicht jedem mitteilt«, erklärte Chen. »Aber in ihrer Ve r wandtschaft muß doch jemand davon gehört haben. Oder einer von Yangs Angehörigen. Vielleicht hat sie ihnen von ihren Plänen erzählt.«
»Ich habe den Alten Liang nach ihren Verwandten g e fragt. Er sagt, er hätte nichts über sie gefunden, als er ihren Familienhintergrund überprüft hat. Yin hatte schon seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie, und zu der von Yang erst recht nicht.«
»Aber eine Überprüfung scheint mir trotzdem sin n voll«, sagte Chen, und nach einer Pause: »Durchaus sinnvoll.«
Nun war es an Yu, seinem Chef über die Hypothese mit der Krabbenfrau zu berichten.
»Eine gute Beobachtung«, sagte Chen.
»Ich werde noch einmal mit ihr reden.«
»Ja, tun Sie das.«
14
Yu traf früh am Morgen im Büro des Nachba r schaftskomitees ein. Aufgrund der Informationen, die Alter Liang zusammengetragen hatte, ließ sich schnell eine genaue Liste von Yins und Yangs Verwandten z u sammenstellen, auch wenn der Nachbarschaftspolizist selbst keinerlei Sinn in deren Befragung sah.
Yins Eltern waren beide bereits gestorben; sie war ihr einziges Kind gewesen. Yin hatte noch zwei Tanten mü t terlicherseits gehabt, beide wesentlich jünger als ihre Mutter, doch der Kontakt zu ihnen war schon Anfang der sechziger Jahre abgerissen. Die Kulturrevolution hatte vieles komplizierter gemacht, auch die familiären Bezi e hungen. In Yins persönlichem Dossier wurden diese Verwandten nicht erwähnt. Alter Liang hatte telefonisch in Erfahrung gebracht, daß sie nach der Kulturrevolution weder schriftlichen noch mündlichen Kontakt mit ihr gehabt hatten.
Auf Yangs Seite gab es, abgesehen von einer über neunzigjährigen, entfernten Tante, lediglich eine Schw e ster namens Jie, die aber vor drei Jahren gestorben war. Selbst in den Jahren vor der Kulturrevolution hatte man Rechtsabweichler wie die Pest gemieden. Jie hatte auf das Wohl ihrer eigenen Familie bedacht sein müssen. Nicht zuletzt wegen ihm hatte man sie auf die Liste derer gesetzt, die nur unter Überwachung arbeiten durften. Jie hatte gleich nach Beginn der Anti-Rechts-Bewegung eine Tochter namens Hong zur Welt gebracht. Anläßlich ihrer Geburt hatte Yang eine Geldanweisung über fünfzig Y u an geschickt, doch das Geld kam zurück. Dabei blieb es dann. Während der Kulturrevolution geriet Jie erneut in Schwierigkeiten, und Hong wurde als gebildete Jugendl i che aufs Land verschickt, heiratete einen ansässigen Bauern, hatte mit ihm einen Sohn und schien sich en d gültig dort niedergelassen zu haben.
Als Yu mit seiner Liste fertig war, war Alter Liang, der nur fünf Minuten von der Gasse entfernt wohnte und gewöhnlich mehr Zeit im Büro als zu Hause zu verbrac h te, noch immer nicht aufgetaucht. Zhong, der Siche r heitsbeauftragte des Nachbarschaftskomitees, verzehrte gerade einen heißen, fettigen Lauchpfannkuchen. Er goß Yu eine Schale Oolong-Tee ein.
»Genosse Alter Liang führt heute morgen anderswo Ermittlungen durch«, sagte Zhong und ließ sich gege n über von Yu am Tisch nieder. »Benötigen Sie unsere Hi l fe, Genosse Hauptwachtmeister Yu?«
»Wissen Sie etwas über die Verhältnisse der Krabbe n frau? Ihr Familienname ist Peng.«
»Ach, die Krabbenfrau. Da fragen Sie den Richtigen«, erwiderte Zhong. »Seit Jahren schon wohnen wir Tür an Tür. Eine grundgute, ehrliche und furchtsame Frau, die keiner Fliege etwas zuleide tut. Sie hat mehr als zwanzig Jahre lang in einer Seidenfabrik gearbeitet, hat immer treu und brav alles getan, was ihr Chef ihr anschaffte, und was passierte? Sie war unter den ersten, die entlassen wurden. Seither hockt sie jeden Morgen schon in aller Frühe in der Gasse und pult Krabben.«
»Ich habe gehört, daß sie ein Abkommen mit dem L e bensmittelmarkt hat.«
»Ja, das ist Teil eines Programms, das die Regierung für diejenigen aufgelegt hat, die unter die Armutsgrenze zu sinken drohen. Manche der auf dem Markt angebot e nen Krabben sehen nicht besonders frisch aus. Um sie zu einem besseren Preis verkaufen zu können, werden die Krabben
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