Schwarz auf Rot
ist der Grund meines Kommens.«
»Dann könnten Sie keinen besseren Führer finden, Oberinspektor Chen. Hier weiß ich Bescheid«, sagte A l ter Liang mit neuerwachtem Stolz. »Ein Nachbarschaft s polizist muß sein Quartier in-und auswendig kennen, einschließlich der Baugeschichte.«
Chen bot seinem selbsternannten Führer eine Zigarette Marke »Panda« an, auch wenn ihm dessen Anwesenheit eher lästig war. Yu hatte ihn bereits vor der Redseligkeit des Alten gewarnt. Aber vielleicht konnte er, wenn schon keine neuen Erkenntnisse im Fall Yin, dann wenigstens ein paar Informationen für die Übersetzung aufschna p pen. »Bitte klären Sie mich auf, Genosse Alter Liang.«
»Sehen Sie, diese Gasse, oder longtang, erzählt selbst schon einiges über Shanghais Vergangenheit«, begann der Alte Liang, während sie noch immer vor dem shik u men -Haus standen. Vielleicht fühlte sich der Alte ja vom Anblick des Hauses und der Gasse inspiriert.
»Nach dem ersten Opiumkrieg war die Stadt durch den Vertrag von Nanjing dazu gezwungen, sich für den Westen zu öffnen, und einige Viertel wurden zu auslä n dischen Konzessionen. Die geringe Anzahl westlicher Bewohner konnte das städtische Leben allein nicht au f rechterhalten. Also gestattete man auch Chinesen, die sich von dem außerhalb der Konzessionen wütenden Bürgerkrieg bedroht fühlten, den Zuzug. Die englischen Behörden waren die ersten, die auf dem für Chinesen ausgewiesenen Gelände Wohnquartiere für viele Me n s chen errichten ließen. Aus verwaltungstechnischen Gründen wurden diese Häuser alle im selben Stil erric h tet, barackenartige Gebäude, die in parallel verlaufenden Reihen angeordnet waren und durch Gassen zugänglich gemacht wurden, die wiederum in eine zentrale Gasse mündeten. Die französischen Behörden übernahmen di e ses System …«
»Und was ist mit den eigentlichen shikumen -Bauten ?« Chen nutzte Liangs Zug an der Zigarette, um den ei n drucksvollen Redefluß seines Führers zu unterbrechen. Diese allgemeine Einführung konnte sich länger hinzi e hen als Chens Geduldsfaden. Vieles davon war ihm b e reits bekannt.
»Dazu komme ich gleich, Oberinspektor Chen«, en t gegnete Alter Liang und zündete sich eine neue Zigarette am Stummel der letzten an. »Das ist eine gute Marke; wie ich weiß, ist sie nur höheren Kadern zugänglich. Damals konnten es sich nur wenige Chinesen leisten, in die Konzessionsviertel zu ziehen. Ein shikumen -Haus – das typische zweistöckige Shanghaier Wohnhaus mit steinernen Türstürzen und einem kleinen Hof – war u r sprünglich für eine Familie vorgesehen, normalerweise eine vielköpfige, wohlhabende Familie, die Räume für die unterschiedlichsten Bedürfnisse zur Verfügung hatte: einen Wohntrakt, die Eingangshalle mit dem Empfang s zimmer, ein Eßzimmer, ein Eckzimmer und mehrere Hinterzimmer, Dachboden, Speisekammer und das tin g zijian. Erst als später akute Wohnungsnot herrschte, wu r den die Räume teilweise an Fremde vermietet, dann u n tervermietet, wobei in die größeren Trennwände eing e baut wurden.
Das hat sich bis heute so fortgesetzt. Sie haben sicher von der Shanghaier Fernsehserie Zweiundsiebzig Famil i en in einem Haus gehört. Darin geht es um derart beengte Wohnverhältnisse.
Aber ganz so schlimm ist es bei uns in der Schatzga r tengasse nicht. In der Regel bewohnen nicht mehr als fünfzehn Familien ein shikumen -Haus.«
»Ja, die Serie kenne ich. Wirklich amüsant diese M i schung u nterschiedlichster Typen. Das Leben in einem shikumen -Haus muß interessant sein.«
»Das können Sie laut sagen. Hier ist was los; die B e wohner leben in ständigem, engem Kontakt miteinander. Man wird praktisch Teil der Nachbarschaft, und die Nachbarschaft prägt das eigene Leben. Nehmen Sie be i spielsweise diese Eingangshalle hier. Sie wurde vor la n ger Zeit in eine Gemeinschaftsküche umgewandelt; hier stehen die Kohleherde von mehr als einem Dutzend F a milien. Natürlich ist es etwas eng, aber das muß kein Nachteil sein. Wer hier kocht, kann seinen Nachbarn R e zepte aus allen erdenklichen Provinzen abschauen.«
»Das würde mir auch gefallen«, sagte Chen und kon n te ein Lächeln nicht unterdrücken.
»Ein anderes Beispiel ist der Hof. Er wird für alle möglichen Tätigkeiten genutzt; im Sommer kann man sogar draußen schlafen, auf einer Rattanliege oder einer Bambusmatte. Das ist angenehm kühl, da können Sie jeden elektrischen Ventilator vergessen. Und beim W ä schewaschen im
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