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Schwarz auf Rot

Schwarz auf Rot

Titel: Schwarz auf Rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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kommunalen Spülstein wird Ihnen g a rantiert nicht langweilig, wenn Oma Liu, Tante Chen oder der Kleine Hou nebenbei die Neuigkeiten aus der Gasse erzählen. Bei dieser Art zu wohnen lernt man, vi e les mit seinen Nachbarn zu teilen.«
    »Das klingt ja sehr nett«, sagte Chen. »Offenbar m a chen die Leute hier Erfahrungen, die man in modernen Apartmenthäusern nicht mehr machen kann.«
    »Die Bewohner der Gasse machen alles mögliche hier«, fuhr Alter Liang mit ungebremster Begeisterung fort. »Die Männer üben Tai-Chi, gießen sich den ersten Tee des Tages auf, singen Arien aus Peking-Opern und informieren sich über das reale Wetter und die politische Wetterlage. Und die Frauen plaudern beim Waschen und Kochen. Hier gibt es keine Wohnzimmer wie in diesen Luxusapartments, deshalb sitzt man am Abend meist draußen; die Männer spielen Schach oder Karten und erzählen sich Geschichten, die Frauen unterhalten sich, stricken oder flicken.«
    Chen kannte solche Szenen aus seiner Kindheit, wenngleich er in einer anderen Gasse groß geworden war. Er hatte genug gehört; neue Informationen waren nicht zu erwarten, und er mußte dem Redefluß des Alten Liang Einhalt gebieten.
    »Hören Sie mal, Oberinspektor«, fuhr Liang unbeirrt fort. »Da preist ein Zuckerwatte-Verkäufer seine Süßi g keiten an. Fliegende Händler, die die verschiedensten W a ren und Dienstleistungen anbieten, kommen durch unsere Gasse; von der Schuhreparatur über das Aufric h ten von Matratzen bis hin zum Stopfen oder Flicken der Step p decken für den Winter. Das ist ungeheuer praktisch …«
    »Haben Sie vielen Dank, Genosse Alter Liang. Wie schon die Redewendung sagt: Ein Gespräch mit Ihnen ist erhellender als zehn Jahre Studium«, sagte Chen mit ec h ter Überzeugung. »Ich würde mich gern einmal länger mit Ihnen unterhalten, sobald ich mein Projekt abg e schlossen habe.«
    Endlich begriff Alter Liang, daß Chen allein gelassen werden wollte. Er entschuldigte sich, verabschiedete sich ein weiteres Mal respektvoll von dem Oberinspektor und zog sich in Richtung seines Büros zurück.
    Chen sah ihm nach, wie er die Gasse hinunterging und dabei immer wieder der auf langen Bambusstangen au f gefädelten Wäsche auswich. Das Dickicht aus Kle i dungsstücken, die an einem Netzwerk aus Stangen hi n gen, hätte von einem impressionistischen Gemälde stammen können. Offenbar war Alter Liang ein Anhä n ger des alten Aberglaubens, daß, wer unter aufgehängter weiblicher Unterwäsche hindurchlief, vom Pech verfolgt wurde.
    Dann wandte sich Chen der soliden schwarzen Holztür des shikumen -Hauses zu. An der Außenseite befanden sich zwei Messingklopfer, und von innen ließ sie sich mit einem stabilen Holzriegel sichern. Nach all den Jahren des intensiven Gebrauchs gab der Türflügel ein lautes Knarren von sich, als er ihn aufdrückte.
    Mehrere Leute hielten sich gerade im Hof auf. Sie mußten ihn im Gespräch mit dem Alten Liang gesehen haben und vertieften sich demonstrativ in ihre jeweiligen Tätigkeiten, als er eintrat. Keiner machte Anstalten, mit dem Oberinspektor zu reden. Während er den Hof durc h querte, fiel ihm eine Reihe von großen hölzernen Gitte r türen auf, deren Paneele mit qualitätsvollen Schnitzereien der acht Unsterblichen bei ihrem Flug über den Ozean verziert waren. Sie bildeten eine Szenenfolge, und jede zeigte eine andere Begebenheit. Diese Türen würden zweifellos eine Bereicherung für das in der New World geplante Volkskunstmuseum darstellen, überlegte Chen.
    Soweit er sich erinnern konnte, hatte er nie, auch nicht als Kind, die Eingangshalle eines shikumen gesehen, die noch ihre ursprüngliche Bestimmung erfüllt hatte. Au s nahmslos wurden diese Hallen als kommunale Räume genutzt, zumal alle anderen Räume sich zu ihnen öffn e ten. Er glaubte, den Geruch von fritiertem fermentierten Tofu wahrzunehmen, der trotz seines Gestanks ein Lie b lingsgericht vieler Familien war. In Shanghai wurde er wegen seines ungewöhnlichen Geschmacks und seiner Konsistenz sehr geschätzt. Dennoch wurde das Gericht zum Bedauern vieler kaum in Restaurants angeboten, weil es so billig war. Zugleich registrierte er von Ferne den gehaltvollen, nostalgiegeladenen Duft von deftiger Hühnerbrühe mit viel Ingwer und Frühlingszwiebeln.
    Unwillkürlich erwog Chen die Möglichkeit, ein so l ches shikumen in ein Restaurant zu verwandeln. Mit S i cherheit ein einzigartiges Unterfangen. In einem Buch über chinesische Küche hatte er gelesen, daß

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