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Schwarz-Indien

Schwarz-Indien

Titel: Schwarz-Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Mir geht es übrigens ganz ähnlich,
    wenn ich einmal sehr lange Zeit aus dem Kohlenbergwerk
    nicht herauskam.«
    »Das kommt daher«, meinte James Starr, »daß wir uns
    hier nicht durch die Felsmassen bedrückt fühlen, die Coal
    City überlagern. Dann erscheint das Firmament wie ein tie-
    fer Abgrund, in den man sich zu stürzen versucht ist. – Hast
    du nicht eine ganz ähnliche Empfindung, Nell?«
    »Ja gewiß, Mr. Starr«, bestätigte das junge Mädchen.
    »Mich überkommt es wie ein Schwindel.«
    »Du wirst dich schon eingewöhnen, Nell«, sagte Harry.
    »Du wirst dich gewöhnen an diese Unermeßlichkeit der
    Welt und unsere düstere Kohlengrube darüber vielleicht
    ganz vergessen.«
    »Niemals, Harry!« versicherte Nell.
    Sie bedeckte dabei mit der Hand ihre Augen, so als wollte
    sie ihrem Geist zu Hilfe kommen, sich an alles zu erinnern,
    was sie verlassen hatte.
    — 228 —
    Zwischen den noch schlafumfangenen Häusern der Stadt
    durchschritten James Starr und seine Begleiter Leith Walk.
    Sie gingen um den Calton Hill, auf dem sich die Sternwarte
    und das Nelson-Denkmal erhebt. Dann folgten sie der Re-
    gent Street, überschritten eine Brücke und langten bald am
    Ausgang der Canongate an.
    Die Stadt lag noch in tiefer Ruhe. Am gotischen Glo-
    ckenturm der Canongate-Kirche schlug es 2 Uhr.
    Jetzt blieb Nell plötzlich stehen.
    »Was ist das dort für eine dunkle Masse?« fragte sie und
    wies dabei nach einem isolierten Gebäude am Ende eines
    kleinen Platzes.
    »Das ist Holyrood, Nell«, antwortete James Starr, »der Pa-
    last der einstmaligen Beherrscher Schottlands, in dem sich
    so viele schreckliche Ereignisse zutrugen. Der Geschichts-
    kundige könnte daraus eine ganze Anzahl königlicher
    Schatten hervorzaubern, von der unglücklichen Maria Stu-
    art an bis zu Karl X., dem früheren König von Frankreich.
    Und doch wird dir, trotz dieser schaurigen Erinnerungen,
    diese Residenz bei vollem Tageslicht gar nicht so abschre-
    ckend aussehen. Mit seinen vier großen krenelierten Tür-
    men gleicht Holyrood vielmehr einem Lustschloß, dem nur
    die Laune seines Besitzers jenen feudalen Charakter be-
    wahrt hat. – Doch setzen wir unseren Weg fort. Dort in der
    Umgebung der uralten Abtei von Holyrood erheben sich die
    prächtigen Salisbury-Felsen, die der Arthur’s Seat (Arthurs
    Stuhl) krönt. Das ist der Punkt, Nell, von dem aus deine Au-
    gen die Sonne aus dem Meer auftauchen sehen sollen.«

    — 229 —
    — 230 —
    Sie betraten den königlichen Garten und stiegen dann
    langsam bergan, wobei sie die Victoria-Allee, einen präch-
    tigen, befahrbaren, im Kreis verlaufenden Weg passierten,
    den Walter Scott in einem seiner Romane so begeistert
    schildert.
    Der Arthur’s Seat bildet im Grunde nur einen Hügel
    von 750 Fuß, der aber die benachbarten Höhen alle über-
    ragt. Auf einem vielfach geschlängelten, das Emporsteigen
    wesentlich erleichternden Weg, erreichten James Starr und
    seine Begleiter nach einer halben Stunde die Mähne des Lö-
    wen, dem der Arthur’s Seat von Westen gesehen auffallend
    ähnelt.
    Dort ließen sich alle vier nieder, und James Starr, der im-
    mer ein Zitat aus den Werken des großen schottischen Ro-
    mandichters bei der Hand hatte, begann:
    »Walter Scott schrieb im 8. Kapitel des ›Kerkers von
    Edinburgh‹ folgendes:
    ›Sollte ich eine Stelle auswählen, von der aus man den
    Aufgang und Untergang der Sonne am herrlichsten sehen
    könnte, hier wäre sie!‹
    Hab also acht, Nell. Die Sonne muß bald erscheinen und
    zum ersten Mal wirst du sie in ihrer ganzen Pracht bewun-
    dern können.«
    Nells Augen blickten unverwandt nach Osten. Harry
    hielt sich neben ihr und beobachtete sie mit ängstlicher
    Spannung. Würden die ersten Strahlen des Tages nicht ei-
    nen zu heftigen Eindruck auf sie machen? Alle schwiegen;
    selbst Jack Ryan verhielt sich still.
    — 231 —
    Schon flimmerte ein blasser, rosa angehauchter Schein
    am Horizont. Ein Rest der über den Zenit hinirrenden
    Dunstmassen färbte sich unter dem ersten Morgenschim-
    mer. Zu Füßen von Arthur’s Seat breitete sich undeutlich
    das Häusermeer Edinburghs aus; noch ruhte die Stille der
    Nacht auf den Wohnstätten der Menschen. Nur da und
    dort unterbrachen einzelne Lichtpünktchen das nächtliche
    Dunkel. Das waren gleichsam die Morgensterne, welche die
    Leute in der alten Hauptstadt anzündeten. Auf der anderen
    Seite, im Westen, bildete die wechselvolle Linie des Hori-
    zonts eine Reihe steilerer Bergspitzen,

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