Schwarz-Indien
die das Morgenrot
alle bald mit einer feurigen Krone schmückte.
Inzwischen wurde nach Osten zu der Umriß des Meeres
schärfer sichtbar. Nach und nach erschien die ganze Ton-
leiter von Farben in derselben Reihenfolge wie ein Sonnen-
spektrum. Das Rot der untersten, dunstreichen Schichten
ging allmählich bis zum Violett im Zenit über. Von Sekunde
zu Sekunde schmückte sich die Palette mit lebhafteren Far-
ben, das Rosa wurde zum Rot, das Rot zum Feuer. Am Mor-
genpunkt, wo der Tagesbogen der Sonne die Grenzlinie des
Meeres schnitt, wurde der Tag geboren.
Eben jetzt schweiften Nells Blicke vom Fuß des Hügels
bis zur Stadt, deren einzelne Quartiere sich deutlicher ab-
grenzten. Hohe Denkmäler, einige spitze Glockentürme
tauchten da und dort auf, deren Umrisse sich bestimmter
von der Umgebung abhoben. In der ganzen Atmosphäre zit-
terte eine Art Zwielicht. Endlich traf ein erster Sonnenstrahl
das Auge des jungen Mädchens. Es war jener grüne Strahl,
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der bei reinem Horizont sich morgens und abends aus dem
Meer zuerst oder zuletzt loslöst.
Eine halbe Minute später wendete sich Nell um und wies
mit der Hand nach einer Stelle, welche die Häuserviertel der
Neustadt überragt.
»Da, ein Feuer!« rief sie erschrocken.
»O nein, Nell«, beruhigte sie Harry, »das ist kein Feuer.
Es ist nur eine flüchtige Vergoldung, mit der die Morgen-
sonne die Spitze des Walter-Scott-Denkmals verziert.«
Wirklich leuchtete die oberste Spitze des etwa 200 Fuß
hohen gotischen Baldachins über dem Denkmal des be-
rühmten Schotten wie ein Leuchtturm erster Klasse.
Jetzt wurde heller Tag. Die Sonne löste sich vom Ho-
rizont los. Noch erschien ihre Scheibe feucht, als sei sie
buchstäblich aus dem Meer aufgestiegen. Zu Anfang eine
verbreitetere Scheibe infolge der Strahlenbrechung und des
scheinbar entfernteren Hintergrunds, zog sie sich nach und
nach zusammen und nahm die gewöhnliche runde Gestalt
an. Ihr Glanz wurde bald unerträglich und ähnelte dem der
Mündung eines Hochofens, der sich am Himmelsgewölbe
öffnete.
Nell mußte sofort die Augen schließen und auf ihre zu
dünnwandigen Lider noch die dichtgeschlossenen Finger
legen.
Harry riet ihr, sich nach der entgegengesetzten Seite des
Himmels zu drehen.
»Nein, Harry«, antwortete sie. »Meine Augen müssen
lernen, das zu sehen, was deine schon zu sehen verstehen.«
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Selbst durch die Hand hindurch bemerkte sie noch einen
rötlichen Schimmer, der immer heller wurde, je mehr die
Sonne über den Horizont aufstieg. Allmählich gewöhnten
sich ihre Augen daran. Dann hob sie die Lider empor und
schaute zum ersten Mal hinaus in das Licht des Tages.
Das fromme Kind sank bewundernd in die Knie.
»O Gott«, rief sie aus, »wie ist deine Welt doch so
schön!«
Dann senkte das junge Mädchen ihre Blicke und ließ sie
ringsumher schweifen. Tief unten entrollte sich das Pano-
rama von Edinburgh: die modernen, geradlinigen Häuser-
viertel der Neustadt; die Anhäufung von Gebäuden und das
verwirrte Straßennetz von Auld Reeky. Zwei Punkte ragten
über das ganze empor, das auf seinem Basaltfelsen aufge-
türmte Schloß und der Calton Hill, der auf seinem abge-
rundeten Gipfel die Ruinen eines griechischen Monuments
trug. Prächtige Alleen strahlten von der Hauptstadt ins Land
aus. Im Norden schnitt ein Meeresarm, der Golf des Forth,
tief in die Küste ein, an der sich der Hafen von Leith öffnete.
Darüber erstreckten sich, als drittes Bild, weithin die lieb-
lichen Gestade der Grafschaft Fife. Eine Straße, so schnur-
gerade wie die nach dem Piräus, verband auch dieses nor-
dische Athen mit dem Meer. Nach Westen hin dehnten sich
die schönen Küsten von Newhaven und Portobello aus, de-
ren Sand die letzten Ausläufer der Brandung gelblich färbte.
Weit draußen belebten einige Schaluppen die Gewässer des
Golfs, und zwei oder drei Dampfer wirbelten ihre langen
Rauchsäulen gen Himmel. Auf der anderen Seite lachte die
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immergrünende Landschaft. Aus der Ebene stiegen da und
dort mäßige Hügel empor. Im Norden warfen die Lomond
Hills, im Westen der Ben Lomond und der Ben Ledi die
Strahlen der Sonne zurück, als lagerte der ewige Schnee auf
ihren Gipfeln.
Nell vermochte nicht zu sprechen. Ihre Lippen murmel-
ten nur halb verständliche Worte. Der Kopf schwindelte
ihr. Bald verließen sie die Kräfte. Sie fühlte noch, wie sie
in dieser reinen Luft, vor diesem
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