Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwarz-Indien

Schwarz-Indien

Titel: Schwarz-Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
Vom Netzwerk:
die das Morgenrot
    alle bald mit einer feurigen Krone schmückte.
    Inzwischen wurde nach Osten zu der Umriß des Meeres
    schärfer sichtbar. Nach und nach erschien die ganze Ton-
    leiter von Farben in derselben Reihenfolge wie ein Sonnen-
    spektrum. Das Rot der untersten, dunstreichen Schichten
    ging allmählich bis zum Violett im Zenit über. Von Sekunde
    zu Sekunde schmückte sich die Palette mit lebhafteren Far-
    ben, das Rosa wurde zum Rot, das Rot zum Feuer. Am Mor-
    genpunkt, wo der Tagesbogen der Sonne die Grenzlinie des
    Meeres schnitt, wurde der Tag geboren.
    Eben jetzt schweiften Nells Blicke vom Fuß des Hügels
    bis zur Stadt, deren einzelne Quartiere sich deutlicher ab-
    grenzten. Hohe Denkmäler, einige spitze Glockentürme
    tauchten da und dort auf, deren Umrisse sich bestimmter
    von der Umgebung abhoben. In der ganzen Atmosphäre zit-
    terte eine Art Zwielicht. Endlich traf ein erster Sonnenstrahl
    das Auge des jungen Mädchens. Es war jener grüne Strahl,
    — 232 —
    der bei reinem Horizont sich morgens und abends aus dem
    Meer zuerst oder zuletzt loslöst.
    Eine halbe Minute später wendete sich Nell um und wies
    mit der Hand nach einer Stelle, welche die Häuserviertel der
    Neustadt überragt.
    »Da, ein Feuer!« rief sie erschrocken.
    »O nein, Nell«, beruhigte sie Harry, »das ist kein Feuer.
    Es ist nur eine flüchtige Vergoldung, mit der die Morgen-
    sonne die Spitze des Walter-Scott-Denkmals verziert.«
    Wirklich leuchtete die oberste Spitze des etwa 200 Fuß
    hohen gotischen Baldachins über dem Denkmal des be-
    rühmten Schotten wie ein Leuchtturm erster Klasse.
    Jetzt wurde heller Tag. Die Sonne löste sich vom Ho-
    rizont los. Noch erschien ihre Scheibe feucht, als sei sie
    buchstäblich aus dem Meer aufgestiegen. Zu Anfang eine
    verbreitetere Scheibe infolge der Strahlenbrechung und des
    scheinbar entfernteren Hintergrunds, zog sie sich nach und
    nach zusammen und nahm die gewöhnliche runde Gestalt
    an. Ihr Glanz wurde bald unerträglich und ähnelte dem der
    Mündung eines Hochofens, der sich am Himmelsgewölbe
    öffnete.
    Nell mußte sofort die Augen schließen und auf ihre zu
    dünnwandigen Lider noch die dichtgeschlossenen Finger
    legen.
    Harry riet ihr, sich nach der entgegengesetzten Seite des
    Himmels zu drehen.
    »Nein, Harry«, antwortete sie. »Meine Augen müssen
    lernen, das zu sehen, was deine schon zu sehen verstehen.«
    — 233 —
    Selbst durch die Hand hindurch bemerkte sie noch einen
    rötlichen Schimmer, der immer heller wurde, je mehr die
    Sonne über den Horizont aufstieg. Allmählich gewöhnten
    sich ihre Augen daran. Dann hob sie die Lider empor und
    schaute zum ersten Mal hinaus in das Licht des Tages.
    Das fromme Kind sank bewundernd in die Knie.
    »O Gott«, rief sie aus, »wie ist deine Welt doch so
    schön!«
    Dann senkte das junge Mädchen ihre Blicke und ließ sie
    ringsumher schweifen. Tief unten entrollte sich das Pano-
    rama von Edinburgh: die modernen, geradlinigen Häuser-
    viertel der Neustadt; die Anhäufung von Gebäuden und das
    verwirrte Straßennetz von Auld Reeky. Zwei Punkte ragten
    über das ganze empor, das auf seinem Basaltfelsen aufge-
    türmte Schloß und der Calton Hill, der auf seinem abge-
    rundeten Gipfel die Ruinen eines griechischen Monuments
    trug. Prächtige Alleen strahlten von der Hauptstadt ins Land
    aus. Im Norden schnitt ein Meeresarm, der Golf des Forth,
    tief in die Küste ein, an der sich der Hafen von Leith öffnete.
    Darüber erstreckten sich, als drittes Bild, weithin die lieb-
    lichen Gestade der Grafschaft Fife. Eine Straße, so schnur-
    gerade wie die nach dem Piräus, verband auch dieses nor-
    dische Athen mit dem Meer. Nach Westen hin dehnten sich
    die schönen Küsten von Newhaven und Portobello aus, de-
    ren Sand die letzten Ausläufer der Brandung gelblich färbte.
    Weit draußen belebten einige Schaluppen die Gewässer des
    Golfs, und zwei oder drei Dampfer wirbelten ihre langen
    Rauchsäulen gen Himmel. Auf der anderen Seite lachte die
    — 234 —
    immergrünende Landschaft. Aus der Ebene stiegen da und
    dort mäßige Hügel empor. Im Norden warfen die Lomond
    Hills, im Westen der Ben Lomond und der Ben Ledi die
    Strahlen der Sonne zurück, als lagerte der ewige Schnee auf
    ihren Gipfeln.
    Nell vermochte nicht zu sprechen. Ihre Lippen murmel-
    ten nur halb verständliche Worte. Der Kopf schwindelte
    ihr. Bald verließen sie die Kräfte. Sie fühlte noch, wie sie
    in dieser reinen Luft, vor diesem

Weitere Kostenlose Bücher