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Schwarz-Indien

Schwarz-Indien

Titel: Schwarz-Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Landschaft Schottlands so verschwen-
    derisch ausgestattet ist.
    Jack Ryan ging auf dem Verdeck der ›Sinclair‹ auf und
    ab und richtete unermüdlich seine Fragen an den Ingenieur
    des Schiffes, der übrigens, je weiter sich das Land Rob Roys
    vor ihnen ausdehnte, als enthusiastischer Bewunderer eine
    Beschreibung von ihm lieferte.
    Zuerst traten im Lomond eine große Menge kleiner In-
    seln und Eilande auf, als wären sie dahin gesät. Die ›Sinclair‹
    streifte fast ihre steilen Ufer, die einander nahe gegenüber-
    liegend manchmal ein einsames Tal, manchmal eine wilde,
    von zerrissenen Felsen umrahmte Schlucht bildeten.
    »Sieh, Nell«, begann der Ingenieur, »jedes dieser Eilande
    hat seine Legende und vielleicht sein Volkslied, ebenso wie
    die Berge, die sich um den See herum auftürmen. Man
    könnte ohne Übertreibung behaupten, die Geschichte die-
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    ser Gegenden sei mit gigantischen Lettern, mit Inseln und
    Bergen niedergeschrieben.«
    »Wissen Sie, Mr. Starr«, sagte Harry, »an was mich dieser
    Teil des Lomond-Sees erinnert?«
    »Nun, Harry?«
    »An die 1.000 Inseln des Ontario-Sees, die Cooper so
    wundervoll beschreibt. Du, liebe Nell, müßtest diese Ähn-
    lichkeit doch ebenso wie ich herausfühlen, denn erst vor
    kurzer Zeit las ich mit dir jenen Roman, den man nicht mit
    Unrecht das Meisterwerk des amerikanischen Verfassers
    nennt.«
    »Wahrhaftig, Harry«, antwortete das junge Mädchen,
    »das ist hier genau dasselbe Bild, und die ›Sinclair‹ glei-
    tet zwischen diesen Inseln dahin wie der Kutter von Jasper
    Eau-douce (Süßwasser) auf dem Ontario-See.«
    »Nun, das beweist«, meinte der Ingenieur, »daß diese
    beiden Örtlichkeiten von zwei Dichtern gleichermaßen be-
    sungen zu werden verdienten. Ich kenne die Tausend In-
    seln des Ontario nicht, Harry, aber ich bezweifle, daß sie
    einen so reizvoll wechselnden Anblick gewähren wie dieser
    Archipel des Lomond. Betrachtet nur diese Landschaft! Da
    liegt die Insel Murray mit ihrem uralten Schloß Lenox, wo
    die alte Herzogin von Albany residierte nach dem Tod ih-
    res Vaters, ihres Gemahls und ihrer beiden Söhne, die auf
    Befehl Jakobs I. enthauptet wurden. Hier erheben sich die
    Inseln Clar, Cro, Torr und viele andere, die einen felsig und
    wild, ohne Spur einer Vegetation, die anderen geschmückt
    mit dem herrlichsten Grün. Hier dunkle Lärchen und weiß-
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    stämmige Birken, dort gelbliches, halbdürres Heidekraut.
    Wahrhaftig, ich muß bezweifeln, daß die Inseln des Onta-
    rio-Sees eine solche Abwechslung zeigen.«
    »Wie heißt jener kleine Hafen?« fragte Nell, die sich nach
    dem östlichen Ufer des Sees gewendet hatte.
    »Balmaha«, antwortete der Ingenieur. »Er bildet den Ein-
    gang zu den Highlands (Hochlanden). Dort beginnen un-
    sere Gebirgsgegenden Schottlands. Die Ruinen, die du dort
    siehst, gehören zu einem früheren Frauenkloster, und jene
    zerstreuten Gräber bedecken so manche Mitglieder der Fa-
    milie MacGregor, deren Name in der ganzen Umgebung
    noch immer genannt wird.«
    »Ja, wegen des vielen Blutes, das diese Familie vergoß
    oder vergießen ließ«, bemerkte Harry.
    »Du hast recht«, antwortete James Starr; »leider muß
    man zugeben, daß die durch gewonnene Schlachten er-
    langte Berühmtheit noch immer die nachhaltigste ist. Sol-
    che Erzählungen von Kämpfen pflanzen sich durch viele
    Menschenalter fort ...«
    »Und werden durch das Volkslied sogar verewigt«, fügte
    Jack Ryan hinzu.
    Zur Bekräftigung seiner Worte intonierte er den ersten
    Vers eines alten Kriegslieds, das die Heldentaten Alexander
    MacGregors, aus Sraë, gegen Sir Humphry Colquhour, aus
    Luss, verherrlichte.
    Nell horchte auf; diese Gesänge von den Fehden früherer
    Zeiten machten auf sie jedoch nur einen betrübenden Ein-
    druck. Warum mußte so viel Blut auf jenen Feldern vergos-
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    sen werden, die dem jungen Mädchen so groß erschienen,
    daß sie doch jedermann Raum bieten mußten?
    Die im allgemeinen 3 bis 4 Meilen voneinander entfern-
    ten Ufer des Sees traten in der Nähe des kleinen Hafens von
    Luss enger zusammen. Nell konnte die Stadt mit ihrem al-
    ten Schloßturm einen Augenblick betrachten. Dann wandte
    sich die ›Sinclair‹ nach Norden und vor den Augen der Tou-
    risten erhob sich der Ben Lomond, der das Niveau des Sees
    um fast 3.000 Fuß überragt.
    »Ein prächtiger Berg«, rief Nell, »wie schön muß die
    Aussicht von seinem Gipfel sein!«
    »Gewiß, Nell«, sagte James Starr.

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