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Schwarz-Indien

Schwarz-Indien

Titel: Schwarz-Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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dabei fast unsichtbar, und die Silberschale un-
    seres Freundes Ryan schrumpft zu einem – Barbierbecken
    zusammen.«
    »Oh, Mr. Starr«, wandte Jack Ryan ein, »welch entwür-
    digender Vergleich! Eben wollte ich das Lied zum Preis des
    Mondes:
    ›Gestirn der Nacht, auf deiner Bahn,
    Wie schmeichelnd ...‹
    anstimmen. Ihr Barbierbecken hat mir die ganze Sangeslust
    verdorben.«
    Inzwischen stieg der Mond langsam am Horizont empor,
    und die letzten Dünste flohen vor seinen Strahlen. Im Zenit
    und im Westen glänzten die Sterne noch auf dem dunklen
    Hintergrund, die nun bald vor dem Silberschein des Mon-
    des erbleichen sollten. Schweigend erfreute sich Nell an dem
    wunderbaren Schauspiel, da ihre Augen das milde Licht des
    Freundes der Nacht recht gut vertrugen, ihre Hand aber zit-
    terte leise in der Harrys und sprach für sie deutlich genug.
    »Steigen wir ein, meine Freunde«, mahnte der Ingenieur,
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    »vor Sonnenaufgang noch müssen wir den Abhang von Ar-
    thur’s Seat erstiegen haben.«
    Die Barke lag, von einem Schiffer bewacht, an einem
    Uferpfahl befestigt. Nell und ihre Begleiter nahmen darin
    Platz. Das Segel wurde gehißt und wölbte sich unter dem
    Druck des Nordwestwinds.
    Welch neue Erscheinung für das junge Mädchen. Sie war
    wohl manchmal auf den Seen New Aberfoyles umhergefah-
    ren; so ruhig dabei Harry aber auch das Ruder führte, es
    verriet doch immer die Anstrengung des Schiffers. Hier sah
    sich Nell zum ersten Mal fast ebenso sanft dahingeführt, wie
    etwa ein Ballon durch die Lüfte gleitet. Der Golf war glatt
    wie ein See. Halb zurückgelehnt, ergötzte sich Nell am sanf-
    ten Schaukeln des Fahrzeugs. Dann und wann brach sich
    ein Mondstrahl Bahn auf die weite Fläche des Forth, dann
    schien das Schiffchen eine in Millionen Funken glitzernde
    Silberfläche zu durchschneiden. Längs der Ufer murmelten
    sanfte Wellen ihr eintöniges Lied dazu.
    Es war wahrhaft entzückend.
    Dann schlossen sich aber Nells Augen unfreiwillig. Ih-
    ren Geist beschlich eine vorübergehende Abspannung. Sie
    ließ den Kopf an Harrys Brust sinken und fiel in sanften
    Schlummer.
    Harry wollte sie wecken, um ihr nichts von den Herrlich-
    keiten dieser Nacht entgehen zu lassen.
    »Laß sie schlafen, mein Sohn«, riet ihm dagegen der In-
    genieur. »2 Stunden Ruhe werden sie besser vorbereiten, die
    Eindrücke des Tages zu ertragen.«

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    Um 2 Uhr morgens langte die Barke am Granton-Pier
    an. Nell erwachte, als jene ans Ufer stieß.
    »Ich habe geschlafen?« fragte sie.
    »Nein, mein Kind«, antwortete James Starr. »Du hast nur
    geträumt, du schliefest, weiter nichts.«
    Die Nacht war jetzt sehr hell. Der Mond stand hoch am
    Himmel und goß seine Strahlen nach allen Seiten aus.
    Der kleine Hafen von Granton enthielt nur wenige Fi-
    scherboote, die sanft auf den langen Wellen des Golfs schau-
    kelten. Gegen Morgen legte sich der Wind. Die dunstfreie
    Atmosphäre versprach einen jener herrlichen Augusttage,
    welche die Nachbarschaft des Meeres nur noch verschönert.
    Am Horizont nur lagerte noch ein warmer Hauch, aber ein
    so zarter und durchsichtiger, daß die ersten Sonnenstrah-
    len ihn gewiß augenblicklich wegsaugen mußten. Das junge
    Mädchen sah also hier zum ersten Mal das Meer, dessen
    äußerste Grenze mit dem Himmelsdach verschmolz. Zwar
    erweiterte sich ihr Gesichtskreis dabei, aber noch empfand
    sie den unbeschreiblichen Eindruck nicht, den der Ozean
    besonders auf jeden Unbefangenen hervorbringt, wenn er
    auf grenzenlose Weiten hinaus das Licht des Tages wider-
    spiegelt.
    Harry faßte Nells Hand. Beide folgten James Starr und
    Jack Ryan durch die noch menschenleeren Straßen. Diese
    Vorstadt der Metropole Schottlands erschien Nell für jetzt
    nur als eine Anhäufung düsterer Häuser, die sie an Coal City
    erinnerte, mit dem einzigen Unterschied, daß die Decken-
    wölbung über dem ganzen hier höher war und voll flim-
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    mernder Punkte glänzte. Sie eilte so leichten Fußes dahin,
    daß Harry seinen Schritt nicht zu verlangsamen brauchte,
    wie er es sonst wohl tat, um sie nicht zu ermüden.
    »Du fühlst dich nicht angegriffen?« fragte er sie nach ei-
    ner halben Stunde Weges.
    »O nein«, antwortete sie. »Meine Füße scheinen kaum
    den Boden zu berühren. Der Himmel über uns ist so hoch,
    daß ich mir nur Flügel wünschte, um mich emporschwin-
    gen zu können.«
    »Halt sie!« rief Jack. »Wir müssen doch unsere gute Nell
    behüten und bewachen.

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