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Schwarz-Indien

Schwarz-Indien

Titel: Schwarz-Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Augen deren Glanz vertragen?«
    »Mein Kind«, bemerkte James Starr, »das sind wirklich
    Sonnen, aber solche, die in unmeßlicher Ferne von uns
    wandeln. Der nächste dieser Sterne, deren Strahlen bis zu
    uns gelangen, ist die Wega, im Sternbild der Leier, die du
    dort nah beim Zenit siehst, und doch ist sie noch 50.000
    Milliarden Lieues von uns entfernt. Ihr Glanz kann dich
    hier also nicht blenden. Unsere Sonne aber wird morgen
    früh in einer Entfernung von 38 Millionen Lieues aufgehen,
    und kein menschliches Auge vermag sie direkt anzusehen,
    denn sie leuchtet mehr als ein Schmelzofen. Doch komm
    jetzt, Nell, komm!«
    Man wandte sich nach jener Straße. James Starr führte
    das junge Mädchen an der Hand. Harry ging auf ihrer an-
    deren Seite. Jack Ryan lief hin und her, wie ein junger Hund,
    wenn ihm sein Herr zu langsam geht.
    Der Weg war menschenleer. Nell sah die Umrisse der
    großen, vom Wind etwas bewegten Bäume an der Seite. Sie
    hielt sie für Riesen, die ihre 100 Arme bewegten. Das Ge-
    räusch des Windes in den hohen Ästen, das tiefe Schweigen,
    wenn er sich legte, die weite Linie des Horizonts, wenn die
    Straße eine Ebene durchschnitt, alles erfüllte sie mit neuen
    Empfindungen und prägte sich ihrem Geist mit unverlösch-
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    lichen Zügen ein. Während sie zuerst eifrig Fragen stellte,
    schwieg Nell jetzt, und ihre Begleiter unterbrachen, wie
    durch gemeinsame Übereinkunft, dieses Schweigen nicht.
    Sie wollten durch ihre Worte die empfindliche Einbildungs-
    kraft des jungen Mädchens nicht störend beeinflussen, son-
    dern ihre Gedanken über das alles sich ganz von selbst ent-
    wickeln lassen. Gegen halb 12 erreichten sie das nördliche
    Ufer am Golf des Forth.
    Dort erwartete sie eine schon vorher von James Starr
    gemietete Barke, welche die kleine Gesellschaft in wenigen
    Stunden zum Hafen von Edinburgh übersetzen sollte.
    Nell sah das zitternde und am Strand infolge der Bran-
    dung leicht schäumende Wasser, das mit flimmernden Ster-
    nen besetzt schien.
    »Ist das ein See?« fragte sie.
    »Nein«, antwortete Harry, »das ist ein Golf mit fließen-
    dem Wasser, die Mündung eines Stroms, oder fast schon ein
    Meeresarm. Schöpf ein wenig von diesem Wasser mit der
    hohlen Hand, Nell, und du wirst sehen, daß es ganz anders
    schmeckt als das aus dem Malcolm-See.«
    Das junge Mädchen bückte sich, tauchte die Hand ein
    und führte sie an die Lippen.
    »Dieses Wasser ist salzig«, sagte sie.
    »Ja«, bestätigte Harry, »es ist jetzt die Zeit der Flut, bei
    der das Meerwasser bis hierher eindringt. Fast drei Viertel
    der ganzen Erdoberfläche sind bedeckt mit solchem Salz-
    wasser, von dem du eben einige Tropfen kostetest.«
    »Wenn das Wasser der Flüsse aber kein anderes ist, als
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    das aus dem Meer, das jenen die Wolken zuführten, warum
    ist dieses süß?« fragte Nell.
    »Weil das Wasser bei der Verdunstung seinen Salzgehalt
    verliert«, erklärte ihr James Starr. »Die Wolken bilden sich
    nun allein durch Verdunstungsprozesse und verbreiten das
    reine Wasser aus dem Meer durch den Regen über die Län-
    der.«
    »Harry, Harry«, rief da plötzlich das junge Mädchen,
    »was ist das für ein rötlicher Schein am Horizont? Brennt
    dort vielleicht ein ganzer Wald?«
    Nell zeigte dabei nach einem Punkt am Osthimmel, wo
    sich die niedrigen Dunstmassen zu färben begannen.
    »Nein, liebe Nell«, antwortete Harry. »Dort wird der
    Mond aufgehen.«
    »Jawohl, der Mond«, fiel Jack Ryan ein, »eine herrliche
    Silberschale, welche die Genien des Himmels am Firma-
    ment vorübergleiten lassen, und die ein ganzes Heer von
    Sternen aufnimmt.«
    »Wahrlich, Jack«, bemerkte der Ingenieur, »ich kannte
    dich bis jetzt noch nicht als Liebhaber so kühner Verglei-
    che.«
    »Nun, Mr. Starr, ich denke, mein Vergleich ist richtig. Sie
    sehen, daß die Sterne in demselben Maß verschwinden, wie
    der Mond aufsteigt. Ich nehme also an, daß sie in jenen hi-
    neinfallen.«
    »Sagen wir, Jack«, entgegnete der Ingenieur, »daß der
    Mond durch seinen Glanz das Licht der Sterne 6. Größe ver-

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    dunkelt, und deshalb verschwinden sie, solange er am Him-
    mel steht.«
    »Oh, wie schön ist das alles«, rief Nell, die ganz in ihrem
    Blick lebte. »Aber ich glaubte, der Mond sei ganz rund?«
    »Rund erscheint er, wenn er voll ist«, antwortete James
    Starr; »das heißt, wenn er sich in Opposition zur Sonne
    befindet. Heute steht er im letzten Viertel, ein Teil seiner
    Scheibe wird

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