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Schwarz-Indien

Schwarz-Indien

Titel: Schwarz-Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Victoria-Allee, einen prächtigen, fahrbaren, im Kreise verlaufenden Weg passirten, den Walter Scott in einem seiner Romane so begeistert schildert.
    Der Arthur-Seat bildet im Grunde nur einen Hügel von 750 Fuß, der aber die benachbarten Höhen alle überragt. Auf einem vielfach geschlängelten, das Emporsteigen wesentlich erleichternden Wege, erreichten James Starr und seine Begleiter nach einer halben Stunde die Mähne des Löwen, dem der Arthur-Seat von Westen gesehen auffallend ähnelt.
    Dort ließen sich alle Bier nieder und James Starr, der immer ein Citat aus den Werken des großen schottischen Romandichters bei der Hand hatte, begann:
    »Walter Scott schrieb im achten Capitel des,»Kerkers von Edinburgh« Folgendes:
    »Sollte ich eine Stelle auswählen, von der aus man den Aufgang und Untergang der Sonne am herrlichsten sehen könnte, hier wäre diese!«
    »Hab also Acht, Nell. Die Sonne muß bald erscheinen und zum ersten Male wirst Du sie in ihrer ganzen Pracht bewundern können.«
    Nell’s Augen blickten unverwandt nach Osten. Harry hielt sich neben ihr und beobachtete sie mit ängstlicher Spannung. Würden die ersten Strahlen des Tages nicht einen zu heftigen Eindruck auf sie machen? Alle schwiegen; selbst Jack Ryan verhielt sich still.
    Schon flimmerte ein blasser, rosa angehauchter Schein am Horizonte. Ein Rest der über den Zenith hinirrenden Dunstmassen färbte sich unter dem ersten Morgenschimmer. Zu Füßen des Arthur-Seat breitete sich undeutlich das Häusermeer Edinburghs aus; noch ruhte die Stille der Nacht auf den Wohnstätten der Menschen. Nur da und dort unterbrachen einzelne Lichtpünktchen das nächtliche Dunkel. Das waren gleichsam die Morgensterne, welche die Leute in der alten Hauptstadt anzündeten. Auf der anderen Seite, im Westen, bildete die wechselvolle Linie des Horizontes eine Reihe steilerer Bergspitzen, welche das Morgenroth alle bald mit einer feurigen Krone schmückte.
    Inzwischen wurde nach Osten zu der Umriß des Meeres schärfer sichtbar. Nach und nach erschien die ganze Tonleiter von Farben in derselben Ordnung, wie ein Sonnenspectrum. Das Roth der untersten, dunstreichen Schichten ging allmälig bis zum Violet im Zenith über. Von Secunde zu Secunde schmückte sich die Palette mit lebhafteren Farben, das Rosa ward zum Roth, das Roth zum Feuer. Am Morgenpunkte, wo der Tagesbogen der Sonne die Grenzlinie des Meeres schnitt, wurde der Tag geboren.
     

    Der Golf war glatt wie ein See. (S. 156.)
     
    Eben jetzt schweiften Nell’s Blicke von dem Fuße des Hügels bis zur Stadt, deren einzelne Quartiere sich deutlicher abgrenzten. Hohe Denkmäler, einige spitze Glockenthürme tauchten da und dort auf, deren Umrisse sich bestimmter von der Umgebung abhoben. In der ganzen Atmosphäre zitterte eine Art Zwielicht. Endlich traf ein erster Sonnenstrahl das Auge des jungen Mädchens. Es war jener grüne Strahl, der bei reinem Horizonte sich Morgens und Abends aus dem Meere zuerst oder zuletzt loslöst.
     

    Holyrood, Palast der einstmaligen Beherrscher Schottlands. (S. 158.)
     
    Eine halbe Minute später wendete sich Nell um und wies mit der Hand nach einer Stelle, welche die Häuserviertel der Neustadt überragt.
    »Da, ein Feuer! rief sie erschrocken.
    – O nein, Nell, beruhigte sie Harry, das ist kein Feuer. Es ist nur eine flüchtige Vergoldung, mit der die Morgensonne die Spitze des Denkmals Walter Scott’s verziert.«
    Wirklich leuchtete die oberste Spitze des gegen zweihundert Fuß hohen gothischen Baldachins über dem Denkmale des berühmten Schotten wie ein Leuchtthurm erster Klasse.
    Jetzt wurde heller Tag. Die Sonne löste sich vom Horizonte los. Noch erschien ihre Scheibe feucht, als sei sie buchstäblich aus dem Meere aufgestiegen. Zu Anfang eine verbreitetere Scheibe in Folge der Strahlenbrechung und des scheinbar entfernteren Hintergrundes zog sie sich nach und nach zusammen und nahm die gewöhnliche runde Gestalt an. Ihr Glanz wurde bald unerträglich und ähnelte dem der Mündung eines Hochofens, der sich am Himmelsgewölbe öffnete.
    Nell mußte sofort die Augen schließen und auf ihre zu dünnwandigen Lider noch die dichtgeschlossenen Finger legen.
    Harry rieth ihr, sich nach der entgegengesetzten Seite des Himmels zu drehen.
    »Nein, Harry, antwortete sie. Meine Augen müssen lernen das zu sehen, was die Deinigen schon zu sehen verstehen.«
    Selbst durch die Hand hindurch bemerkte sie noch einen röthlichen Schimmer, der immer heller wurde, jemehr die Sonne

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