Schwarz-Indien
Granton-pier an. Nell erwachte, als jene an’s Ufer stieß.
»Ich habe geschlafen? fragte sie.
– Nein, mein Kind, antwortete James Starr. Du hast nur geträumt, Du schliefest, weiter nichts.«
Die Nacht war jetzt sehr hell. Der Mond stand hoch am Himmel und goß seine Strahlen nach allen Seiten aus.
Der kleine Hafen von Granton enthielt nur wenige Fischerboote, welche sanft auf den langen Wellen des Golfes schaukelten. Gegen Morgen legte sich der Wind. Die dunstfreie Atmosphäre versprach einen jener herrlichen Augusttage, welche die Nachbarschaft des Meeres nur noch verschönert. Am Horizonte nur lagerte noch ein warnier Hauch, aber ein so zarter und durchsichtiger, daß die ersten Sonnenstrahlen ihn gewiß augenblicklich wegsaugen mußten. Das junge Mädchen sah also hier zum ersten Male das Meer, dessen äußerste Grenze mit dem Himmelsdache verschmolz. Zwar ihr Gesichtskreis erweiterte sich dabei, noch empfand sie aber den unbeschreiblichen Eindruck nicht, den der Ocean vorzüglich auf jeden Unbefangenen hervorbringt, wenn er auf grenzenlose Weiten hinaus das Licht des Tages wiederspiegelt.
Harry faßte Nell’s Hand. Beide folgten James Starr und Jack Ryan durch die noch menschenleeren Straßen. Diese Vorstadt der Metropole Schottlands erschien Nell für jetzt nur als eine Anhäufung düsterer Häuser, die sie an Coal-City erinnerte, mit dem einzigen Unterschiede, daß die Deckenwölbung über dem Ganzen hier eine höhere war und voll flimmernder Punkte glänzte. Sie eilte so leichten Fußes dahin, daß Harry seinen Schritt nicht zu verlangsamen brauchte, wie er es wohl sonst that, um sie nicht zu ermüden.
»Du fühlst Dich nicht angegriffen? fragte er sie nach einer halben Stunde Weges.
– O nein, antwortete sie. Meine Füße scheinen kaum den Boden zu berühren. Der Himmel über uns ist so hoch, daß ich mir nur Flügel wünschte, um mich emporschwingen zu können.
– Halte sie! rief Jack. Wir müssen doch unsere gute Nell behüten und bewachen. Mir geht es übrigens ganz ähnlich, wenn ich einmal sehr lange Zeit aus dem Kohlenwerke nicht herauskam.
– Das rührt daher, meinte James Starr, daß wir uns hier nicht durch die Felsmassen gedrückt fühlen, welche Coal-City überlagern. Dann erscheint das Firmament wie ein tiefer Abgrund, in den man sich zu stürzen versucht ist. – Hast Du nicht eine ganz ähnliche Empfindung, Nell?
– Ja gewiß, Herr Starr, bestätigte das junge Mädchen. Mich überkommt es wie ein Schwindel.
– Du wirst Dich schon eingewöhnen, Nell, sagte Harry. Du wirst Dich gewöhnen an diese Unermeßlichkeit der Welt und unsere düstere Kohlengrube darüber vielleicht ganz vergessen.
– Niemals, Harry!« versicherte Nell.
Sie bedeckte dabei mit der Hand ihre Augen, so als wollte sie ihrem Geiste zu Hilfe kommen, sich an Alles zu erinnern, was sie verlassen hatte.
Zwischen den noch schlafumfangenen Häusern der Stadt durchschritten James Starr und seine Begleiter Leith-Walk. Sie gingen um den Calton-Hill (C.-Hügel), auf dem sich die Sternwarte und das Denkmal Nelson’s erhebt. Dann folgten sie der Regent-Straße, überschritten eine Brücke und langten bald am Ausgange der Canongate an.
Die Stadt lag noch in tiefer Ruhe. Am gothischen Glockenthurme der Canongate-Kirche schlug es zwei Uhr.
Jetzt blieb Nell plötzlich stehen.
»Was ist das dort für eine dunkle Masse? fragte sie und wies dabei nach einem isolirten Gebäude am Ende eines kleinen Platzes.
– Das ist Holyrood, Nell, antwortete James Starr, der Palast der einstmaligen Beherrscher Schottlands, in dem sich so viele schreckliche Ereignisse zutrugen. Der Geschichtskundige könnte aus demselben eine ganze Anzahl königlicher Schatten hervor zaubern, von der unglücklichen Maria Stuart an bis zu Karl X., dem früheren Könige von Frankreich. Und doch wird Dir, trotz dieser traurigen Erinnerungen, diese Residenz bei vollem Tageslichte gar nicht so abschreckend aussehen. Mit seinen vier großen crenelirten Thürmen gleicht Holyrood vielmehr einem Lustschlosse, dem nur die Laune seines Besitzers jenen feudalen Charakter bewahrt hat. – Doch setzen wir unseren Weg fort. Dort in der Umgebung der uralten Abtei von Holyrood erheben sich die prächtigen Salisbury-Felsen, welche der Arthur-Seat (d. i. A.-Stuhl) krönt. Das ist der Punkt, Nell, von dem aus Deine Augen die Sonne aus dem Meere sollen auftauchen sehen.«
Sie betraten den königlichen Garten und stiegen dann langsam bergan, wobei sie die
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