Schwarz
allerdings verändert, er ist diplomatischer geworden, staatsmännischer. Geduldig hat er sich als Meinungsführer der politischen Intelligenz installiert, als Alternative zu den mehr oder weniger diktatorischen Systemen, die derzeit in Ostafrika herrschen.«
»Nazir bezieht sich selten auf den Koran, er tritt nicht als Islamist auf, sondern als rationaler Denker, der die Rechte der Afrikaner verteidigt. Mit Ausnahme einiger seiner Meinungsäußerungen zur UNO verfällt Nazir äußerst selten in Fanatismus.«
»Uns ist nicht bekannt, wann Nazir die Zusammenarbeit mit islamistischen Terrororganisationen suchte. Auf der Grundlage des Aufklärungsmaterials ist jedoch klar, dass er an der Planung aller Anschläge beteiligt war, die in den letzten Jahren UN-Einrichtungen trafen: das UN-Hauptquartier in Bagdad im August 2003, den Sitz der UNO in Algerien 2007 und das UN-Hauptquartier in Kenia letzte Woche. Nazirs Name wird in Telefongesprächen erwähnt, die Kämpfer der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee führten, bevor sie im Januar 2009 fünf UN-Blauhelme hinrichteten. Und auf Nazir wird auch in dem Aufklärungsmaterial verwiesen, demzufolge derzeit kleinere Terroranschläge gegen die UN-Operationen in der Demokratischen Republik Kongo, in Liberia und der Elfenbeinküste geplant werden.«
»Es wird alles Mögliche unternommen, um die Identität Nazirs zu ermitteln.«
Betha Gilmartin blätterte um und überflog Auszüge aus Nazirs Schriften der letzten Jahre:
»Opfer sind unvermeidlich, wenn man die UN, den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank dauerhaft aus Afrika vertreiben will.«
»Der scharfsinnigste Denker von Al Kaida, Ayman al-Zawahiri, hat recht – die UNO ist tatsächlich ein Feind des Islam und der Moslems.«
»Die Gleichgültigkeit der UN gegenüber Afrika …«
Betha konnte sich nicht mehr auf den Text konzentrieren, als die Wohnungstür aufging.
»Ist der Klempner da gewesen?«, fragte Albert noch auf der Schwelle und strich über seine nassen Haare, die ihm glatt vom Regen am Kopf klebten. Er sah so hoffnungsvoll aus wie ein Glücksspieler, der beim Roulette die Kugel beobachtet.
»Nein, Liebling, hier ist niemand gewesen. Es sieht so aus, als müssten wir entweder lernen, ohne heißes Wasser zu leben, oder auf unsere alten Tage noch eine Klempnerlehre machen«, antwortete Betha, nahm die Jacke ihres Mannes und hängte sie zum Trocknen auf.
»Willkommen in London. Nichts ist mehr so, wie es einmal war«, murmelte Albert verärgert. »Heute wollte ein Kunde einen Preisnachlass für die Erstauflage von Virginia Woolfs ›Orlando‹. Er hat gesagt, das Buch bekäme er im Zeitungsladen für ein paar Pfund. Am liebsten hätte ich ihn hinausgeworfen …«
»Du, Albert, wirfst niemanden aus deinem Laden raus. Dafür bist du viel zu nett«, entgegnete Betha und klopfte ihrem Mann auf die Schulter, dabei hörte sie, wie in ihrem Arbeitszimmer das Telefon klingelte. Das bedeutete selten etwas Gutes. Albert schaute sie mit seinem »Schon wieder?«-Blick an, den er perfektioniert hatte.
Betha ging in ihr Arbeitszimmer, nahm den Hörer ab und meldete sich. Sie hörte dem Bericht des Anrufers schweigend zu, stellte eine Frage, dankte für die Informationen und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Es dauerte eine Weile, bis Albert bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Betha stand steif da, und Tränen rannen ihr über die Wangen.
»Der Anruf betraf Leo. Er hat in Helsinki … eine Überdosis Medikamente genommen«, sagte sie undeutlich und setzte sich hin, ihr Herz schlug zu schnell. Sie drückte eine Hand auf die Stirn und konzentrierteihr Denken auf Leo und die Trauer, die sie empfand. Dann stellte sie sich vor, wie sie ihre freie Hand auf die Trauer legte, und spürte, wie der Stress allmählich nachließ. Diese Beruhigungsübung versagte nie.
Albert, der ganz blass geworden war, setzte sich neben seine Frau. »Weshalb? Was ist geschehen?«
Betha legte den Kopf in Alberts Schoß. »Leo hat sich anscheinend nie davon erholt, was ihm, was seiner Familie passiert ist.«
»Selbstmord. Die Impulsivität und die Verhaltensstörungen verstehe ich noch, aber Selbstmord …« Albert schüttelte den Kopf.
Betha stand auf, streichelte Alberts Wange und ging kurz in ihr Arbeitszimmer. Sie gab ihrem Mann eine Mappe, in der sich ihre schönsten Fotos von Leo befanden, und öffnete selbst einen dicken Hefter voller Material, das Leo betraf. Sie suchte ein mehr als zehn Jahre altes Gutachten eines Psychiaters
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