Schwarz
würde bald nicht mehr fähig sein, sich zusammenzureißen. Wie lange schmachtete er schon in diesem Loch? Vor zwanzig Jahren war er imstande gewesen, für Stunden vor der Realität in seine Fantasie zu fliehen und sich vorzustellen, wie er sich nach einem Flugzeugabsturz, bei einer Geiselnahme oder in der menschenleeren Wildnis retten würde … Doch nun als Erwachsener funktionierte diese Methode nicht mehr so wirkungsvoll. Er schaffte es nicht, sich wie früher in seine innere Welt zurückzuziehen.
Unweigerlich tauchten die Erinnerungen an die Ereignisse im Oktober 1989 auf, sosehr er sich auch bemühte, an etwas anderes zu denken. Er brauchte Medikamente, Luft, Licht, etwas, was den in ihm heranrollenden Tsunami abschwächte … Er wollte um jeden Preis aus dieser Zelle heraus, wenn es sein musste, zum Verhör durch Baabas.
Wie eine Antwort auf seine Bitte hörte Kara in dem Moment wieder Schritte, die näherkamen.
***
»Weshalb hast du die Unterlagen des Witwenmachers vernichtet?«, rief Oberst Baabas, presste Karas verletzte Hand zusammen und runzelte die Stirn, als ein Schmerzensschrei durch den Verhörraum schallte, der noch lauter war als sonst. Auf so einen eigensinnigen Klienten traf er nicht oft, auch dieses Verhör schien ergebnislos zu bleiben.
Baabas holte gerade zum Schlag aus, als die Tür aufging und ein junger Soldat eintrat, mit einem Mobiltelefon in der ausgestreckten Hand.
»Die Kanzlei des Zweiten Vizepräsidenten«, sagte der junge Mann mit ernster Miene, und Baabas hatte es plötzlich eilig. Er schnappte sich das Telefon, marschierte auf den Flur hinaus und ignorierte Kara einfach, der laut verlangte, dass man ihn die UN anrufen ließ. Mischte sich Osman erneut in seine Ermittlungen ein? Was zum Teufel war mit diesem liberalen Weichei los?
»Deinetwegen bin ich in einer vertrackten Lage«, sagte Rashid Osman. »Ich habe ungeheuer viel Mühe aufgewendet, um in der UNO eine höhere Wertschätzung für den Sudan zu erreichen, zuletzt habe ich im Februar in der Vollversammlung gesprochen und versichert, dass der Sudan Gesetze und Verträge genauso achtet wie die westlichen Länder. Und jetzt sind aus dem Büro des UNO-Generalsek retärs schon zwei Nachrichten gekommen, die sich in scharfem Ton auf die Verhaftung eines ihrer Mitarbeiter beziehen.«
»Es handelt sich um Leo Kara, denselben Mann, der auch mit dem Mord an Ewan Taylor in Verbindung steht. Diesmal haben wir Kara vor dem Haus des Witwenmachers Ruslan Sokolow gefasst, kurz nachdem der Waffenhändler getötet und seine Villa in Brand gesteckt wurde. Ich verhöre …«
Vizepräsident Osman unterbrach ihn. »Ist der Mann schuldig? Gibt es dafür stichhaltige Beweise?«
Der Oberst hätte die Frage gern mit Ja beantwortet, aber das Risiko war zu groß. Möglicherweise würde man ihn für seine Behauptungzur Verantwortung ziehen. »Wir haben … Schwierigkeiten beim Zusammentragen von Beweisen. Die Überwachungskameras in der Villa des Witwenmachers waren nicht in Betrieb. Und das Messer, mit dem Kara in die Hand gestochen wurde, war mit Tape beklebt, so dass daran keine brauchbaren Fingerabdrücke zu finden sind. Sokolow wurde mit derselben Waffe ermordet. An Karas Händen und Kleidung haben wir zwar kein Blut des Witwenmachers gefunden, aber …«
»Was sagt dieser Kara selbst, was ist seiner Ansicht nach passiert?«
Baabas fasste Karas Version vom Ablauf der Ereignisse in einer Minute zusammen.
»Ihr habt doch sicher sofort die Verfolgung dieses Mannes aufgenommen, den Kara beschrieben hat?«, fragte der Vizepräsident weiter.
»Wir waren zwei Minuten nach Karas Verhaftung in dem Haus, und dann hat es noch einmal zwei Minuten gedauert, bis die Villa umstellt war. Man darf nicht vergessen, dass die Situation vollkommen eindeutig zu sein schien, Kara war verwundet und ist vom Tatort geflohen.« Baabas hörte sich verlegen an, ihr Einsatz war tatsächlich nicht optimal abgelaufen.
Der Vizepräsident schnaubte verärgert. »Wie lange ist Kara jetzt … inhaftiert?«
»Knapp vierundzwanzig Stunden.«
»Du musst ihn gehen lassen. Der Sudan kann es sich nicht leisten, die UNO und den Westen noch mehr zu verärgern. Wenn wir in internationale Entwicklungshilfeprojekte einbezogen werden und von den westlichen Ländern Unterstützung bekommen wollen, dann müssen wir uns anpassen und verantwortungsvoll handeln.«
»Das ist Schwäche. Kein anständiger Sudanese würde sich so unterwürfig verhalten, nur solche Liberale wie du,
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