Schwarz
im ganzen Wagen.
»Dieser Verrückte ist über mich hergefallen«, beschwerte sich der Student beim Schaffner, sein Kopf war unter Karas Achsel eingeklemmt.
»Lassen Sie den Jungen los, hier wird nicht randaliert, auch wenn es der Erste Mai ist«, befahl der Schaffner.
»Geh mal kurz da weg«, sagte Kara, dessen Augen glühten, und machte einen Schritt nach vorn, falls nötig, würde er den Fahrkartenknipser einfach beiseitestoßen.
Der Schaffner hatte das Theater satt und verkündete sein Urteil: »Du steigst dann beim nächsten Halt aus!«
»Lass den Mann in Ruhe, die jungen Leute da haben ihm Bier auf die Hose gekippt. Kein Wunder, dass er sich aufregt.« Ein Reisender mit Basketballermaßen, der sich den Film anschaute, mischte sich in das Geschehen ein. Der Gesichtsausdruck des Schaffners verriet, dass ihn die Wortmeldung ein wenig besänftigte.
»Beide auf eure Plätze und hinsetzen.« So lautete sein salomonisches Urteil, und nun wartete er ab, was der großgewachsene Mann, der den Studenten immer noch fest in seinem Griff hatte, tun würde.
Schließlich ließ Kara den Betrunkenen los und schubste ihn weg, schaute den Schaffner grimmig an und setzte sich hin. Er biss die Zähne zusammen, atmete tief durch und bekam sich allmählich wieder unter Kontrolle.
Ein Reisender lief den schmalen Gang entlang und stieß mit dem Koffer an Leo Karas Knie. Der wachte auf, schaute instinktiv hinaus, sah ein Schild mit der Aufschrift »Jyväskylä«, und dann wurde ihm klar, dass sich der Zug nicht bewegte. Jetzt hieß es, sich beeilen.
Eeva Rinne lächelte ihren Neffen an, der erst im letzten Moment auf den Bahnsteig gesprungen war, als sich der Zug fast schon wieder quietschend in Bewegung setzte, und noch ganz verdattert dreinblickte. Seine Sachen hielt er im Arm.
»Na, gut geschlafen?«, fragte Eeva und nahm Karas Tasche, damit der sich seine Jacke anziehen konnte. »Du siehst noch blasser ausund hast ganz tiefliegende Augen, oder bilde ich mir das nur ein? Und das Grübchen am Kinn wird auch immer markanter.«
Kara umarmte seine Tante. Eeva sah wesentlich älter aus als beim letzten Mal. Ihre strengen Gesichtszüge erinnerten ihn mehr denn je an seinen Vater. Ihm fiel ein, dass seine Eltern in diesem Jahr auch sechzig geworden wären. »Konnte Markku mich nicht abholen kommen?«
»Im Fernsehen laufen wieder irgendwelche Fußballhockeymeisterschaften oder weiß der Geier, was, da sitzen die alten Kerle da und starren vor dem Maifeiertag in die Glotze, sie sind ganz hin und weg und führen sich auf wie eine Herde junger Affen. Sonst wäre er natürlich gekommen, er nimmt ja, so oft es geht, seinen Rallyeschlitten, sogar die hundert Meter bis zum Briefkasten fährt er mit dem Auto.«
Der erste Teil der Fahrt verging rasch, sie tauschten Neuigkeiten aus, und beide hatten viel zu erzählen, allerdings brachte es Kara nicht übers Herz, Eeva mit den schlimmsten Einzelheiten seiner Dienstreisen zu schockieren. Der Erbhof von Eevas Mann, einem Landwirt, lag in Leppävesi, etwa zwanzig Kilometer von Jyväskylä entfernt.
»Morgen gibt es dann ein richtiges Mittagessen, wie es sich für den Ersten Mai gehört. Wir haben gedacht, Markku und ich, dass wir mit dir nach Jyväskylä fahren, zum Picknick auf dem Harju. In unserem Dorf gibt es eigentlich keine Maitraditionen. Zumindest keine, bei denen man es wagen könnte, sie einem Gast vorzuführen.«
Nach der Hälfte der Fahrt machte sich im Auto Schweigen breit, den Grund dafür kannten beide genau.
»Hat sich in Hinsicht auf dein Gedächtnis irgendetwas geändert?«, fragte Eeva schließlich. Immer, wenn sie sich trafen, wollte Eeva darüber reden, was 1989 mit ihrem Bruder passiert war.
Dieses Thema mochte Kara nicht, er konnte Eeva ganz einfach nicht helfen. Was sollte er sagen? Dass sein Leben wie das seines Vaters damals zu Ende gegangen war, dass er kaum zu etwas anderem imstande war, als zu arbeiten, und auch das mehr schlecht als recht, wenn man bedachte, was er eigentlich für Fähigkeiten besaß.
Kara schüttelte den Kopf. »Ich melde mich natürlich sofort, wennes an der Front Fortschritte gibt.« Genau aus diesem Grund vermied er es, seine Tante zu sehen, in ihrer Gesellschaft rückte ihm die Vergangenheit allzu sehr auf den Leib.
Eeva fuhr in flottem Tempo bis ans Ende der Birkenallee, die ihre Getreidefelder durchschnitt. Die Tür des alten Hauptgebäudes war offen, Markku Rinne stand auf der Schwelle des Blockhauses und winkte lebhaft, als Eeva
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