Schwarz
mitten auf dem Hof anhielt.
»Grüß dich, Leo. Komm rein, und zwar schnell, die Drittelpause geht gerade zu Ende«, sagte Eevas Mann, drückte Kara die Hand und zog ihn gleich mit sich fort. Sie stiegen die Treppe in den Keller hinunter, wo ein halbes Dutzend Bauern aus der Gegend auf einem riesigen Sofa saß. Fast eine ganze Wand des niedrigen Raums war von einer Leinwand bedeckt, auf die ein an der Decke befestigter Projektor mit gedämpftem Surren ein verblüffend scharfes Bild warf. Aus kleinen Lautsprechern in allen vier Ecken dröhnte der Lärm der Zuschauermassen, man hatte das Gefühl, vor Ort auf den Rängen der Eishockeyarena zu sitzen.
»Das ist Eevas Neffe Leo Kara«, sagte Markku Rinne zu seinen Freunden und ließ sich in einem gewaltigen Ledersessel nieder, der auf dem Paradeplatz stand. Fast genau im selben Augenblick warf der Schiedsrichter im Zebrahemd den Puck aufs Eis, und das zweite Drittel begann.
Die Eishockeyzuschauer im Keller brummten etwas zur Begrüßung, aber von ihren Plätzen erhoben sie sich nach dem Anpfiff nicht mehr. Kara erkannte einen Mann mit schmalem Gesicht und Brille, bei dem er mit Markku vor Jahren einmal Werkzeug ausgeliehen hatte, und einen Bärtigen mit großen Ohren, der bei den Wettkämpfen im Orientierungsfahren mit dem Auto Markkus Kartenleser war.
»Was für ein Spiel ist das?«, fragte Kara und bekam mehrere Antworten auf einmal, aus denen er schlussfolgern konnte, dass es sich um das erste Zwischenrundenspiel bei der Eishockey-WM in der Schweiz handelte, Finnland gegen Kanada. Es stand 1:1.
Kurz darauf kam Eeva mit einer Flasche Aquavit in den Keller. »Jetzt, wo Leo zu Besuch da ist, kann ich mich vielleicht auch mal trauen, im WM-Studio vorbeizuschauen.«
Sie goss Linie-Aquavit in zwei Schnapsgläser und reichte das eineKara, während gerade ein kanadischer Stürmer an die Bande krachte, es sah übel aus. Der Schiedsrichter unterbrach das Spiel mit einem Pfiff, und auf dem Eis erhitzten sich die Gemüter.
»Aha, Leo trinkt also auch gern Linie, ist das eine Familientradition?«, fragte Markku Rinne.
»Hab ich das denn noch nie erzählt?«, erwiderte Eeva erstaunt. »Die Geschichte des Linie-Aquavit begann Anfang des 19. Jahrhunderts, als in Trondheim fünf Eichenfässer mit Aquavit in den Frachtraum eines norwegischen Schiffs gerollt wurden. Am Bestimmungsort in Indonesien gelang es aber nicht, sie zu verkaufen, und als das Schiff dann etwa zwei Jahre später nach Norwegen zurückkehrte, stellte man fest, dass sich der Geschmack des Aquavits beträchtlich verbessert hatte. Seitdem überquert der gesamte Linie, der in den Verkauf geht, in Eichenfässern zweimal den Äquator. Mein Großvater ist Anfang des 20. Jahrhunderts auf einem Schiff mitgefahren, das Linie an Bord hatte.«
»Das dürfte eine Legende sein«, meldete Markku Zweifel an der Geschichte an. »Heutzutage macht sich wohl kaum jemand noch so viel Mühe.«
Nun mischte sich auch Kara in das Gespräch ein. »Die Route jeder Flasche kann man im Internet anhand des Abfahrtstages überprüfen, der auf dem Etikett steht.« Doch die ganze Aufmerksamkeit des WM-Publikums im Keller galt schon wieder dem Eishockeyspiel.
Am frühen Abend des 1. Mai genau um 17:35 Uhr ruckte der Zug auf dem Bahnhof in Jyväskylä an. Diesmal hatte Kara die schnellstmögliche Verbindung nach Helsinki gewählt. Der Pendolino würde die nicht ganz dreihundert Kilometer in knapp drei Stunden schaffen. Auch nicht gerade ein Hochgeschwindigkeitszug.
Den Tag hatten sie in ausgelassener Stimmung verbracht – trotz der Niederlage Finnlands beim Eishockey. Kara hatte fast bis um zehn geschlafen, und kurz nach dem Frühstück war er mit Markku und Eeva und prall gefüllten Proviantkörben nach Jyväskylä zum Maifeiertagspicknick auf dem Harju, einem Park auf einem Berg, gefahren. Neben dem, was man traditionell am Ersten Mai zu sich nahm, also Würstchen, Kartoffelsalat, Pfannkuchen, Maikringel,Sekt und belegte Brote mit Hering, hatte Eeva auch von Markku selbstgeräuchertes Lammfleisch und Wildschweinwurst serviert.
Kara gähnte herzhaft, heute herrschte im Zug eine gespenstische Ruhe, jetzt könnte man vielleicht sogar ein Nickerchen machen. Da betrat derselbe Schaffner den Wagen, der ihm am Vortag bei seinem Wutausbruch in die Schusslinie geraten war. Jetzt fand er seinen Anblick nur amüsant, der Mann sah aus wie eine Karikatur des großspurigen Gilbert Birou. Diese Assoziation kam gerade zur rechten Zeit, Kara hatte
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